schneeraben.de - Philosophische Reisevorbereitungen von Thomas H. Jäkel

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Das Skriptorium

 

 

Der Untergang der aufgehenden Sonne

von Thomas H. Jäkel

 

 

Wenn in einem deutschen Stadtpark zu nächtlicher Stunde ein Jugendlicher mit 4,1 Promille Alkohol gefunden und in die Notaufnahme gebracht wird, dann mag der geneigte Leser in Asien dies als Geschichte aus fernen Ländern verstehen und sich interessiert dem Lokalteil seiner Zeitung zuwenden. Dabei mag es diesem Leser aber dennoch kaum verborgen bleiben, dass auch dort die Themen von Alkohol, Drogen und vor allem Selbstmordzahlen durchdrängt sind und dies selbst dann, wenn man die zugrunde liegenden Informationen in den meisten Fällen leider nur zwischen den Zeilen lesen kann. Schließlich gehören Depressionen, Suizid und jegliches andere vermeintliche Versagen unserer Mitmenschen nicht unbedingt zu den Schlagzeilen, die man in einer dynamischen und erfolgreichen Gesellschaft zu lesen erhofft. Der Traum vom ewigen und vor allem gesunden Leben hat sich tief in unser Bewusstsein eingeprägt und vielen ist der realistische Bezug zu den Höhen und Tiefen unserer Existenz fast vollständig abhanden gekommen. Die modernen Gesellschaften haben keinen natürlichen Platz mehr für Alte, Kranke und vor allem für die schwachen Mitbürger. Doch auch wenn diese Gruppe ihr Schicksal meist im Stillen erträgt, so sind die Zeichen der Zeit nicht weniger Besorgnis erregend.

 

 Die chinesische Erfolgsgeschichte hat auch in diesem Bereich einen neuen Rekord geschaffen. Nach einem aktuellen Bericht der „China Daily“ ist Selbstmord zur Todesursache Nummer eins unter chinesischen Jugendlichen geworden. Mit für das Jahr 2006 geschätzten annähernd 300.000 Selbstmorden liegt der Suizid im Land der Mitte damit bereits auf Platz 5 der häufigsten Todesursachen. Wie immer kann die Dunkelziffer weit höher angesiedelt werden und die Zahl derer, die bei dem Versuch sich das Leben zu nehmen gescheitert sind, liegt dabei natürlich völlig im Dunkeln. Nach einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nehmen sich jährlich weit mehr als eine Million Menschen das Leben und damit fallen mehr Menschen dem Suizid zum Opfer als durch Mord und Kriege zusammen. In Japan nehmen sich täglich mehr als 100 Menschen das Leben. Damit scheidet im Land der aufgehenden Sonne alle 15 Minuten ein Japaner freiwillig aus dem Leben. Bemerkenswert ist auch, dass der Suizid zum Beispiel in der traditionellen Kultur der australischen Aborigines im Grunde nicht existent war und nun seit 1970 stetig ansteigt. Dabei sterben etwa 40% mehr Aborigines durch die eigene Hand als dies in anderen Gesellschaftsgruppen Australiens der Fall ist. Die meisten davon sind noch nicht einmal 30 Jahre alt. Zu diesen grausigen Statistiken gesellen sich die vielen unzähligen „kleinen“ Tode, die von den Betroffenen ebenfalls durch eigenes Handeln, aber über längere Zeit und damit durch systematische Selbstzerstörung erreicht werden. Hier schließt sich dann der Kreis wieder und der im Stadtpark gestrandete deutsche Jugendliche wird genau so sichtbar, wie der Drogensüchtige oder die unzähligen Prostituierten in einer der vielen Metropolen Asiens.

 

 Weitgehend ungeachtet blieb jedoch der Aufruf der WHO zum „World Suicide Prevention Day“, der für den 10. September 2006 zusammen mit der „International Association for Suicide Prevention“ (IASP) ausgerufen wurde. Haben der Marlboro Mann und Ronald McDonald eine wahre Flut an Predigern auf den Plan gerufen, die sich sicherlich ernsthaft um unsere Gesundheit Sorgen machen, so bleiben derartige Kampagnen zur Verhinderung einer sich epidemisch ausbreitenden Suizidgefahr nicht einmal im Plan stecken. Gestorben wird noch immer alleine und die helfende Hand ist nicht zu sehen. Dabei können sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Suizids durchaus mit denen des Rauchens oder der Fettleibigkeit messen lassen. Menschen scheiden nicht einfach von einem Tag auf den anderen aus dem Leben und vor allem bei Jugendlichen müssen schon ernsthafte Gründe vorliegen, um am Anfang eines Lebens bereits den Ausgang zu suchen. Wenn eine Gesellschaft schon nicht aus humanitären Gründen die Notwendigkeit sieht, sich dieses Problems anzunehmen, dann sollten wenigstens wirtschaftliche Gründe die notwendige Aufmerksamkeit für dieses Problem auf sich ziehen. Jedem Suizid geht in der Regel eine längere Phase des Rückzugs, der Lethargie und damit eine Passivität voraus, die für die Gesellschaft nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen Schaden darstellt. Wenn im Grunde hochproduktive Menschen sich über Jahre dem Arbeitsleben ganz oder teilweise entziehen, keine Freude am Leben und damit an ihrer Arbeit entwickeln können, dann ist nicht nur ein individuelles Leben in Gefahr, sondern auch die eigentliche Basis einer Gesellschaft. Wo immer sich gerade bei Jugendlichen verstärkte Hoffnungslosigkeit breit macht, da wird auch der Nährboden für Exzesse und Subkulturen geschaffen, der in vielen arabischen Staaten bis hin zu Selbstmordattentätern führen kann.

 

 Diese Hoffnungslosigkeit und die damit verbundene Flucht in Ersatzdrogen führt auch zu der im Vormarsch befindlichen Jugendkriminalität, Bandenbildung und zu einer Abnabelung von den Geschehnissen innerhalb der Gesellschaft. Dabei ist dieses Problem nicht nur in Städten wie Frankfurt, London oder Los Angeles zu finden. Auch in Asien ist ein verstärkter Zerfall gesellschaftlicher Normen und eine Zunahme exzessiven Verhaltens bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu verzeichnen. In Bangkok ist es nicht unüblich, dass Schüler einen Bus überfallen und Kinder anderer Schulen nur deshalb erschießen oder erstechen, weil sie einer anderen Schule oder Universität angehören. Drogen und vor allem Alkohol spielen hier eine wichtige Rolle und führen in Verbindung mit sexuellen Ausschweifungen bis hin zu Vergewaltigungen zu ernsthaften Problemen. In Plastiksäcke verpackte und in den Mülleimer geworfene Babys sind da leider keine Ausnahmeerscheinung mehr. Wer nun daran denkt die Liste der Verbote und Gesetze zu erweitern, sieht den Kern des Problems nicht. In der Tat sind Drogen und Alkohol für viele der Exzesse verantwortlich und doch bleibt hier die Frage unbeantwortet, warum sich Jugendliche so bereitwillig in eine Drogenabhängigkeit begeben und sehenden Auges ihr Leben aufs Spiel setzen. Warum also nutzt der Jugendliche das Angebot zum Komasaufen mit Flatrate und verbringt seinen Abend nicht anderweitig? Warum finden sich viele Jugendliche gerne in einer Gruppe wieder und ziehen dann randalierend durch die nächtlichen Straßen?

 

 Die Antwort fällt sicher nicht leicht und verlangt schon deshalb unser besonderes Interesse. Vielerorts werden die Wirtschaftslage, Computerspiele oder Filme für die Probleme verantwortlich gemacht und sicherlich tragen all diese Dinge auf ihre Art zu einer Entwicklung bei, die im schlimmsten Fall den Tod der Betroffenen zur Folge hat. Auf der anderen Seite mag man sich ernsthaft fragen, was Kinder und Jugendliche zum Beispiel in Bangkok so den ganzen Tag zu tun haben, womit sie sich ablenken können und den Spaß finden, der Kindern in jedem Falle zusteht. In einer typisch thailändischen Familie sind in der Regel beide Eltern berufstätig und die Erziehung der Kinder wird in vielen Fällen auf die Großmutter oder eine Tante übertragen. Nach der Schule sind die Einkaufszentren der Stadt geradezu überfüllt mit Schülern und Studenten, die man aufgrund ihrer Schuluniformen ja ganz leicht erkennen kann. Zuhause wartet im Grunde nichts, die Eltern kommen spät und müde nach hause und so müssen Jugendliche eigene Wege finden, ihre Tage mit Aktivitäten zu füllen. Wer jedoch nach Sportvereinen, Jugendhäusern, Museen, Kunstgalerien, Theatern oder anderen geeigneten öffentlichen Plätzen sucht, wird hier in Bangkok kaum fündig werden. Das Angebot an freien Einrichtungen ist ausgesprochen dünn gesät und alles andere kostet in jedem Falle zu viel Geld. So bilden sich Gruppen, die ihr zuhause in einem der vielen Malls finden, man zieht durch die Stadt und letztlich findet man sich irgendwo in einer Diskothek oder Straßenkneipe wieder. Der Kontakt zur Familie ist damit gebrochen und viele Schulpsychologen beklagen den zunehmenden Verlust der Bindung an die Familie und die damit einhergehende soziale Verwahrlosung der Jugendlichen.

 

 Das Neue überkommt das Alte, doch steht dieses auf tönernen Füßen, wenn es nicht auf erprobten und geeigneten Fundamenten basiert. Eine auf Leistung und Konsum getrimmte Gesellschaft wird ihrer Jugend keine ausreichende Perspektive für ein sinnvolles und erfülltes Leben geben können, wenn nicht gleichzeitig auch Ansätze für die elementaren Fragen der menschlichen Existenz nach dem Warum gegeben werden. Hier ist das Geistige gefragt und genau dies kommt in vielen Bereichen moderner Gesellschaften zu kurz. Literatur, Kunst, Musik sind genauso wie Philosophie, Moral und Ethik keine Domäne der Reichen, sondern ein Gut der jeweiligen Kultur, das jedem Individuum jeden Alters gleichermaßen zugänglich sein muss. Wer Komasaufen, Dogenmissbrauch, Langeweile und Kriminalität vermeiden will, der muss Angebote machen, Interesse wecken und verstehen, dass viele Menschen allein im Kampf ums Überleben keinen ausreichenden Sinn sehen. Eine Gesellschaft, die ihre Kinder in Tagesstätten verfrachtet, Menschen über 50 aufs Abstellgleis setzt und die Alten in Heimen versteckt, kümmert sich nur mehr um eine kleine Gruppe von kaufkräftigen Individuen, solange diese noch produktiv sind. Es ist eine Herausforderung für die Gesellschaften Asiens und der Welt, sich diesem Problem zu stellen und Gesellschaften zu schaffen, die nicht nur durch Geld und finanzielle Werte geprägt sind, sondern durch Kultur, Religion und eine Freude am Gegenseitigen. Eine soziale Gemeinschaft muss gefühlt und erlebt werden, damit die Menschen zu ihren eigentlichen und besonderen Fähigkeiten zurückfinden – Gestalten, Schaffen, Kreativität und Erleben. Gefordert sind hier nicht nur Regierungen, sondern auch Firmen, die durch ihre Präsenz mehr bieten können als nur neue Produkte. Man mag sich auch fragen, warum wir Computer benötigen um die reale Welt zu simulieren, wenn wir diese auch gemeinsam und direkt erleben können. Wenn sich Jugendliche in Shanghai oder Tokyo im Stillen verabschieden, wenn deutsche Teenager im Komasaufen ihr Heil suchen, wenn Straßengangs, Drogen und Prostitution mehr bedeuten als ein eigenes Leben, dann haben unsere Systeme trotz ihrer wirtschaftlichen Erfolge nachhaltig versagt. Dies erfordert auch nicht nur Geld, sondern in erster Linie Verständnis und vor allem viel Zeit. Jedes Jahr verschwindet eine Million Menschen lautlos in der Dunkelheit der Verzweiflung und einem selbst gewählten Tod. Ein Vielfaches mehr zerstört sich mit Drogen und Exzessen über die Zeit. Darunter könnte ein Einstein, ein Beethoven oder ein guter Freund gewesen sein. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dieses Thema zum Thema zu machen.