schneeraben.de - Philosophische Reisevorbereitungen von Thomas H. Jäkel

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Das Skriptorium

 

 

Die 68er

von Thomas H. Jäkel

 

 

Eine alte Weisheit besagt, wenn über eine Sache Gras gewachsen ist, dann kommt bestimmt so ein Kamel und frisst das Gras wieder weg! Und das zurecht, denn nach gut 30 Jahren ist es an der Zeit, sich wieder einmal der 68er Bewegung zu erinnern. Das waren die Zeiten, als die Kommunarden den Muff von tausend Jahren unter den Talaren rausgeblasen haben und auch in den Jahren danach das Establishment ganz gehörig auf Trab gehalten haben. Aber, Hand aufs Herz, da waren nicht nur Mitglieder der Kommune I, wie Fritz Teufel, Rainer Langhans oder Dieter Kunzelmann, sondern auch brave, graue Mäuse, die sich in diesen Jahren von alten Traditionen abnabelten und neue Freiheit schnupperten. Abgesehen von den paar Spontis, die später in der Friedensbewegung und letztlich bei den Grünen ihre Heimat gefunden haben, scheinen die ganzen 68er verschwunden zu sein. Und, so ehrlich muss man schon sein, auch die Grünen sind nicht mehr das was sie einmal waren.

 

Vereinzelt kann man sie noch erkennen und Joschka Fischer macht ja auch eine schmucke Figur als Minister. Die meisten haben sich jedoch den Gang durch die Institutionen selbst neu definiert und sich dabei kaum an die ursprüngliche Idee von Rudi Dutschke gehalten. Wer will sich auch heute noch an die APO, die Schlacht am Tegeler Weg, wilde Demonstrationen oder die Ermordung von Benno Ohnesorg erinnern? Gut rasiert, gestriegelt und eingewickelt in bestem Zwirn würde die Beteiligung an dieser Episode so manchem hoch dotierten und etablierten 68er im Rahmen der anstehenden Aufsichtsratssitzung wohl auch nicht gut zu Gesicht stehen. Vielleicht, aber natürlich nur mit demütigem Schmunzeln im Gesicht, könnte der eine oder die andere im Rahmen einer Cocktailparty noch Bewunderung erheischen und aus der offensichtlichen Jugendsünde auch noch Profit schlagen. Vielleicht schlägt auch manchem beim Klang von Street fighting man, Blowing in the wind oder Born to be wild noch die Seele höher. Wie sonst sollte auch die ungebrochene Hörerschaft der ergrauten Rolling Stones zu erklären sein. Doch zum Glück ist ja aus den eigenen Kindern der 68er etwas Ordentliches geworden und schließlich sind Michael Jackson und die Spice Girls ja auch viel zeitgemäßer und besser für die Kids.

 

Sicherlich, die 68er Bewegung steht auch im Zusammenhang mit Namen wie Ulrike Meinhof, Andreas Baader und der späteren RAF, die vom Protest zum Widerstand übergingen und sich in einem nicht akzeptablen Exzess verirrten. Die von der APO in Berlin organisierte 1. Mai Kundgebung versammelte 1968 aber ganze 40.000 Menschen und schon am 11. Mai zog es in Bonn weitere 50.000 Menschen zusammen, die gegen die Notstandsgesetze demonstrierten. Auch in den folgenden Jahren beteiligten sich unzählige Studenten an Demonstrationen und man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Mehrheit zumindest mit den grundsätzlichen Ideen der 68er Bewegung sympathisierte. Doch schon damals war eigentlich klar, dass diese Bewegung langfristig keine Chance zum Überleben hatte. „Die Bewegung rennt und rennt, weil sie das Ziel nicht kennt“ drückt aus, woran es mangelte und so haben sich die meisten der damaligen Studenten ins normale Leben zurückgezogen und sind brave Bürger geworden.

 

Und doch hat diese Bewegung die politische und gesellschaftliche Landschaft in Deutschland nachhaltig verändert und eigentlich gäbe es keinen Grund sich nicht dazu zu bekennen. Hochschulreformen, Aufbau der demokratisch geprägten Kritikfähigkeit, Friedens- und Umweltbewegung haben vieles verursacht, was wir heute als selbstverständlich hinnehmen und wofür uns unsere Partner international schätzen. Die Probleme haben sich im Laufe der Jahre geändert, sind aber nicht weniger geworden. Es würde der jungen Generation in Deutschland sicherlich nicht schlecht tun, die Kritikfähigkeit und den Mut zur Veränderung der 68er Generation zu übernehmen, um die aktuellen Herausforderungen zwischen Ost und West, zwischen Deutschen und Ausländern und zwischen Arm und Reich aktiv zu bearbeiten, anstatt sich nur tatenlos an der Wohlstandsgesellschaft zu laben.

 

Die typischen 68er sind heute um die 50 Jahre alt und haben sich in allen Bereichen etabliert. Soweit, so gut. Aber allein die Sorge um die Karriere und das Wohl der Familie können kaum Grund genug sein, alles zu vergessen und diese Periode in den Schrank zu stellen. Vielleicht sollte sich der eine oder die andere nach nunmehr 30 Jahren wieder an die Ideale erinnern, die man einmal sein eigen nannte und diese an die junge Generation weiter geben. Es ist das Andersdenken, das uns weiter bringt und nicht die endlose Konformität und Problemvermeidung. Und Gelegenheiten gibt es genug. Wenn sie sich einmal wieder in erlauchtem Kreise befinden und sich bei all den zum Besten gegebenen Banalitäten zu Tode langweilen, dann nehmen sie das einfach nicht mehr hin, sondern nennen sie das Kind beim Namen. Auch wenn wir alle ganz normale Bürger geworden sind, so haben wir doch auch etwas verändert. Wir sind noch lange nicht zu alt, um unseren Hintern zu bewegen, etwas zu riskieren und für unsere Ideale einzustehen. Na ja, und das mit der Karriere werden sie schon regeln.

 

Zurecht werden bei dieser Darstellung nun viele ihre Zustimmung verweigern und genauso zurecht auf all die humanistischen Bewegungen, Hilfsaktionen und ihr eigenes rechtschaffenes Leben verweisen. Und in der Tat gibt es bewegende Persönlichkeiten und Vorgänge in der Geschichte der letzten 2000 Jahre. Die Frage ist letztlich nur, was Jesus, Mohammed, Buddha, die Schriften eines Sokrates oder Plato, die Taten eines Franz von Assisi, das Leben der Mutter Theresa oder eines Mahatma Ghandi bewirken konnten. Nun kann man wie immer natürlich auch hier geteilter Meinung sein, doch wenn die Mehrheit der Menschheit in vermeintlicher Harmonie leben sollte, dann stellt sich erneut die Frage, wie diese Mehrheit es zulassen konnte, dass eine verschwindende Minderheit unablässig daran arbeitet diese Harmonie zugrunde zu richten.

 

Und so einfach ist es eben auch nicht. Die Masse leidet, schweigt und toleriert mit stiller Anerkennung die Vorgänge der Welt. Vielleicht haben ja diejenigen Recht, die da immer so beflissen sagen, dass man da ja nichts machen könne oder vielleicht sollten wir endlich damit beginnen uns auf die Gesetzmäßigkeiten der Natur und den Sinn unseres Menschseins zu konzentrieren und den Versuch unternehmen in Harmonie mit uns und der Natur zu leben. Die Aussicht auf zehn Milliarden Menschen, die schon bald diesen Planeten bevölkern werden, ist eine Aufgabe, die von uns allen zu tragen ist, wobei den Starken naturgemäß eine wichtige Rolle zukommt. Schon in absehbarer Zukunft wird es nicht mehr von Bedeutung sein, wie viel Profit ein Unternehmen oder eine Volkswirtschaft erzeugt, sondern welchen konkreten Beitrag dieses Unternehmen und die Gesellschaft zum Gemeinwohl am Ende eines Jahres geleistet hat. Hierzu gehört auch, dass die wirtschaftliche Globalisierung durch geeignete politische Vereinigungen unterstützt wird.

 

All dies wird sich kaum realisieren lassen, solange wir unseren Kindern nahe legen, sich zunächst um den eigenen Vorteil zu kümmern. Aber auch unsere Idolwelt ist überholt, denn smarte Managertypen und harte Kämpfer werden die Herausforderungen des dritten Jahrtausends kaum bewältigen. Es mag ironisch klingen, aber es scheint, dass die Menschen schon bald zum Vorbild heranwachsen werden, die heute wegen ihres Engagements für die Umwelt, die Tiere und den Frieden belächelt werden. Das sollte sich vor allem die Werbung zum Leitbild machen, die uns noch immer und unverdrossen klarmachen will, dass nur starke, junge und dynamische Menschen von Interesse sind. Es wird wohl auch keinen Sinn machen, wenn wir einfach damit fortfahren uns nur noch zu amüsieren und dabei zunehmend Gefahr laufen geistig zu verarmen. In diesem Sinne ist die humanistische Bewegung leider sogar rückläufig.

 

Ein sinnvoller Wandel der Systeme muss gleichfalls die drastische Änderung der Lehrpläne in den Schulen und Universitäten nach sich ziehen, um neues Denken zu erzeugen, damit sich Manager endlich das Gemeinwohl zum Ziel setzen und nicht mehr nur die schiere Vermehrung ihres Vermögens als Leitbild verfolgen. Vielleicht wäre es in einem solchen System dann auch möglich, dass Lebensmittel nicht mehr aus ökonomischen Gründen vernichtet werden, sondern in die Länder gebracht werden, in denen Menschen vor Hunger sterben.

 

Anleitungen zu einer besseren Welt gibt es genügend und wir müssen hierfür nicht einmal ein neues Buch schreiben. Dabei ist es ganz egal, ob wir den Koran oder die Bibel lesen. Wir können uns an Martin Luther King erinnern, an Merlin den Zauberer oder die Lehren der Indianer. Unsere Bibliotheken sind voll von Einsichten und Visionen, die über 2000 Jahre gesammelt wurden. Dies sind die wahren Errungenschaften und es wäre an der Zeit, dass wir diese Bücher wieder in die Hand nehmen und neue Wege finden, um eine Zukunft für diese Welt zu gestalten, die es allen Menschen erlaubt unter menschlichen Bedingungen und in Frieden zu leben.

 

Immer und überall haben sich auf der Welt Brände, Katastrophen, Kriege, Morde und Liebesaffären ereignet. Aber anders als vor 2000 Jahren haben wir heute durch die Technologie die Chance alles zu erleben, was sich in dieser Welt zuträgt und daraus auch zu lernen. Es liegt an uns die Visionen von Orwell und Huxley zu verhindern und endlich damit zu beginnen unsere Systeme neu zu überdenken und zu unserem Vorteil zu nutzen. Vor allem aber ist es an der Zeit, dass die schweigende Mehrheit das Wort ergreift und die destruktiven Machenschaften einer skrupellosen Minderheit für immer beendet.

 

Wenn am 1. Januar 2000 die Sonne wieder aufgeht, sollten wir uns alle in Demut verbeugen und ernsthaft Besserung geloben. Wir sollten damit beginnen die zu unterstützen, die sich für eine bessere Welt aufopfern, anstatt uns vom Colgate Lächeln der Berühmtheiten blenden zu lassen. So könnte der Beginn des Jahres 2000 der Auftakt zu einer wahren Renaissance werden und den Beginn einer neuen Weltordnung bedeuten.

 

Natürlich ist all dies nur ein Traum. Und doch bleibt die Hoffnung, dass sich der eine oder andere bei Sekt und Feuerwerk daran erinnert, dass auch die Uhr der Welt kurz vor zwölf steht und unsere Teilnahme an der Zukunft dringend erforderlich ist. André Heller hat ganz trefflich festgestellt: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.“ Ja, wir sollten zumindest damit beginnen, über das Abenteuer einer friedlichen und sauberen Welt nachzudenken und das Ende dieses Jahrtausends ist hierfür ein ausgesprochen guter Tag.