schneeraben.de - Philosophische Reisevorbereitungen von Thomas H. Jäkel

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Das Skriptorium

 

 

Hagenbuch

In der Stadt

 

von

Thomas H. Jäkel

 

 

 

Hagenbuch stand jetzt in seinem schwarzen Lodenmantel vor der Türe des Kaffeehauses und starrte auf das Treiben, das sich ganz offensichtlich in seiner Abwesenheit auf der Straße entwickelt haben musste. Er war entsetzt. Wohin er auch blickte, er sah nur noch Menschen, die sich durch die engen Gassen und Straßen drängten, als wäre es ihr letzter Tag auf dieser Erde. Der Strom schien so gewaltig, dass er Hagenbuch keine andere Wahl ließ, als sich weiter nach hinten an die Türe zu drücken, um der allgegenwärtigen Gefahr zu entrinnen, von einem dieser Wesen angerempelt und berührt zu werden. Außer ihm waren alle guten Mutes, zumindest meinte er dies aus den Gesichtern zu lesen, die immer nur für einen kurzen Augenblick vor ihm erschienen, um dann wieder in der Menge zu verschwinden. Hagenbuch versteckte sich hinter seinem Mantelkragen und blickte starr auf den Boden, so als wollte er sich mitten in diesem Treiben einfach unsichtbar machen. Mit seinen Augen fuhr er nun das Muster der Pflastersteine nach, hielt bei jeder Zigarettenkippe, die er dort liegen sah, kurz inne und begann seine Beobachtungen wieder von vorne. Plötzlich entdeckte Hagenbuch, dass sich das Bild der Pflastersteine auf der rechten Seite verändert hatte und er erkannte ein paar kleine rote Schuhe, die dort genauso regungslos standen wie er. Langsam erhob er seinen Blick, um zu sehen, wer dieser dreiste Eindringling war, der sich da ganz heimlich in seine Welt geschlichen hatte.

 

Hagenbuch blickte in die großen, leuchtenden Augen eines kleinen Jungen, der plötzlich neben ihm stand und sich immer noch fest an der Hand seiner Mutter festhielt. Ihre Blicke hatten sich nicht zufällig getroffen und keiner der Beiden wollte nun davon ablassen, den Anderen bis auf den Grund zu durchleuchten und ihn mit seinen Augen fest an sich zu ziehen. Auch Hagenbuch war von diesem Treffen angetan, denn er fühlte keinerlei Abscheu oder gar Angst, als sich der kleine Junge mit seinen braunen Augen daran machte, Hagenbuch genau zu studieren, seine tiefen Falten, die nur spärlich von seinem Schnurrbart verdeckt wurden, nachzuzeichnen und sich ein möglichst genaues Bild von Hagenbuch zu machen, so wie es ein Spiegel nie zeigen könnte. Hagenbuch sah regungslos in diese kleinen braunen Augen und bemühte sich, jede auch noch so geringe Gefühlsregung zu verbergen, da er in gewisser Weise Angst hatte, dass er den kleinen Jungen damit erschrecken würde. Aber der Junge bewegte sich ebenfalls nicht, sondern blickte Hagenbuch weiterhin tief in die Augen bis er plötzlich ganz vorsichtig zu lächeln begann, seine kleine Hand erhob und mit dem Finger auf Hagenbuch zeigte. Es war nicht das erste Mal, dass sich Hagenbuch in solch einer Situation wiederfand, doch diesmal traf ihn der auf ihn gerichtete Blick tief in der Seele und zerstörte alle noch vorhandenen Zweifel in ihm. Seine Hand versteckte sich verkrampft in der Manteltasche und Hagenbuch hatte Mühe sie zu befreien, um der Aufforderung des Jungen zu folgen. Als sich ihre Finger schließlich trafen, gab es nichts mehr zu sagen und Hagenbuch blickte lächelnd auf den Jungen, drehte sich zur Seite und mischte sich unter die Menschen, die noch immer durch die Straßen zogen.

 

Hagenbuch war ganz in Gedanken und bemerkte nicht, wie er von allen Seiten angerempelt und berührt wurde. Sein Blick war starr in die Ferne gerichtet, unscharf, verschwommen und eigentlich sah Hagenbuch in diesem Moment nur noch das Gesicht des kleinen Jungen. Mit der Zeit jedoch entfernte sich Hagenbuch instinktiv wieder von der Masse, die ihn mit sich getragen hatte ohne von ihm tatsächlich Kenntnis genommen zu haben. Er empfand es schließlich als wohltuend, seinen Weg am Rande der Gasse und ganz eng an den Häuserwänden fortzuführen, sich wegzuschleichen und zu entkommen. Wo immer er die Gelegenheit sah, bog er in kleine Seitengassen und versuchte auf diese Art an sein Ziel zu kommen. Noch immer verfolgten ihn die Augen des kleinen Jungen und Hagenbuch erinnerte sich an seinen Großvater, der ihn als Kind oft an den Wochenenden an die Hand nahm und mit ihm durch den nahen Wald spazierte. Er selbst hatte keine Kinder, obwohl er vor Zeiten durchaus daran gedacht hatte und die Verantwortung gerne übernommen hätte. Doch die Jahre seiner Ehe versicherten ihm nachhaltig, dass seine Entscheidung richtig war und an mehr wollte er sich diesbezüglich auch nicht mehr erinnern. Zudem plagte ihn inzwischen der Hunger, denn es war ein anstrengender Tag gewesen. Ob er wohl ein guter Vater für seine Kinder gewesen wäre, fragte sich Hagenbuch, während er langsam über den kleinen Vorhof einer Kirche ging. Es erschien ihm jedoch müßig, diesen theoretischen Gedanken weiterzuführen, denn er hatte keine Kinder und würde auch nie Kinder haben, denn manchen Menschen war es eben nicht gegeben und so musste er sich stattdessen selbst mit dem Leben herumschlagen. Hagenbuch sah tief in einer Gasse einen kleinen Stand, an dem sich einige Menschen versammelt hatten und er vermutete, dass es dort auch etwas zu Essen gab, eine Vorstellung, die ihm Hoffnung machte und ihn antrieb. Hagenbuch näherte sich mit der gebotenen Vorsicht diesem Stand und die Gerüche, die der offenen Küchentüre entwichen, waren für ihn so betörend, dass er sich selbst dazu überredete und sich an einem der kleinen Stehtische einen Platz suchte, an dem möglichst wenig Menschen standen.

 

Es war kalt und die Sonne stand bereits sehr tief, so dass Hagenbuch Schutz in seinem Lodenmantel suchen musste. Im Grunde liebte er diese Jahreszeit, so wie er alle Jahreszeiten liebte. Inzwischen hatte man ihm sein Essen gebracht und er versuchte seine kalten Hände an der heißen Suppenschüssel zu wärmen, die dampfend und wohlriechend vor ihm stand. Die drei Männer am Nebentisch waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie von Hagenbuch keine Notiz nahmen und sich angeregt über einen Mord unterhielten, der in der letzten Nacht in der Parawetzgergasse begangen wurde. Hagenbuch war dankbar für diese Missachtung und spielte mit seinem Löffel in der heißen Suppe. Es war für ihn nicht ungewöhnlich, dass er von anderen Menschen nicht beachtet wurde, bemühte er sich doch selbst, jede Auffälligkeit zu vermeiden und sich so leise wie möglich in der Welt zu bewegen. Doch Hagenbuch ließ es sich auch jetzt nicht nehmen, die drei Männer genau zu studieren, ihre Gesten und vor allem ihre Wahl der Worte. Aus ihrem Gespräch entnahm Hagenbuch allerlei Einzelheiten, wie und wann sich der Mord zugetragen hatte und vor allem, wer für diese abscheuliche Tat zur Verantwortung gezogen werden musste. Das alles interessierte Hagenbuch eigentlich wenig, denn Morde geschahen immer und überall, doch fragte er sich, wann der kleine Junge mit den braunen Augen zum Mörder werden würde. Wer oder was hatte die Macht aus einem unschuldigen Kind einen Verbrecher zu machen und wer musste dafür zur Verantwortung gezogen werden? Er hatte schon Tote gesehen, damals in Palermo, ein Werk der Mafia, doch konnte er sich damals wie heute diese Frage nicht beantworten. Man musste die Augen dieses Jungen gesehen haben, seine anmutigen Bewegungen und die Unschuld seines Seins, um sich für immer zu fragen, welche Kraft der Erde dies zerstören konnte und warum sich außer Hagenbuch anscheinend niemand darüber Gedanken machte.

 

Hagenbuch machte sich auf den Weg nach Hause. Er war in Gedanken verloren, abwesend, ja beinahe andächtig als er durch die dunklen Straßen und Gassen der Stadt zog. Er kannte sich aus, nichts war ihm hier in dieser Stadt fremd, die seit vielen Jahren seine letzte Heimat geworden war. Am Ende seiner Reise hatte sich Hagenbuch hier niedergelassen und mit allem, was ihm einst lieb und teuer war, gebrochen. Nur die Erinnerungen hatte er sich bewahrt und trug sie wie einen Schatz durch seine einsamen Tage und Nächte. Er bereute es nicht, nicht mehr, denn er wollte reinen Herzens gehen und nichts zurücklassen, was an ihn und seine Zeit erinnern konnte. Bei diesem Gedanken hielt Hagenbuch inne und blieb mitten auf der Gasse stehen. Er blickte sich um, als wollte er sicher gehen, dass ihm niemand gefolgt war, doch da war niemand und so zog Hagenbuch seine Hand aus der Manteltasche, senkte seinen Blick und nahm den kleinen Jungen an die Hand. Gemeinsam gingen sie seinen Weg weiter, blieben immer wieder stehen, um Zuckerwatte oder andere Süßigkeiten zu kaufen. Am See fütterten sie die Enten und ließen sich den Wind durch die Haare wehen, tollten auf den grünen Wiesen im Park umher und versteckten sich hinter den Bäumen. Hagenbuch erzählte dem Jungen Geschichten aus anderen Ländern, Märchen und Sagen, denn der Junge wollte alles wissen, was Hagenbuch jemals erlebt hatte. Als Hagenbuch schließlich die Türe zu seinem Haus aufschloss, lag alles im Dunkeln. Er wollte es so. Er blickte im Schutz dieser Dunkelheit aus seinem Fenster bis der kleine Junge das Ende der Straße erreicht hatte. Auch Tränen konnten seinen Schmerz nicht lindern und erst der Schlaf brachte ihm die Erlösung von diesem Tag.