schneeraben.de - Philosophische Reisevorbereitungen von Thomas H. Jäkel

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Das Skriptorium

 

 

Hagenbuch

Der Winteranfang

 

von

Thomas H. Jäkel

 

 

 

Es war ruhig, viel zu ruhig. Der Gesang der Vögel verstummte und wich der Stille, die sich zwischen den Bäumen breit machte. Auch die Zeit hinterließ jetzt keinerlei Spuren mehr. Alles schien in sich selbst aufzugehen, regungslos, abgestorben. Viel zu früh für diese Jahreszeit hatte der erste Schnee im Laufe dieser Nacht die ganze Umgebung in einen weißen Schleier gehüllt und die Welt von all den grauenvollen Geräuschen befreit. Der Raum war dunkel und das wenige Licht, das sich auf dem Schnee spiegelte, konnte kaum im Inneren des Raumes überleben. Nur hier und da wurden leichte Umrisse deutlich, zeigten sich Formen und ließen erahnen, dass Hagenbuch völlig nackt in seinem Sessel lag und bewegungslos aus dem Fenster in den Garten starrte, um den Schneeflocken dabei zuzusehen, wie sie sich leise auf die Welt legten. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr gewaschen oder rasiert und fragte sich ab und an, wie lange er dort eigentlich schon saß. Er wusste es nicht mehr, wollte es auch nicht wissen, da er mit seinen Gedanken ganz wo anders war und wichtigere Dinge zu erledigen hatte, als sich den Hals zu waschen. Die Empathie, so schoss es Hagenbuch jetzt plötzlich durch den Kopf, konnte Menschen töten und sie sogar dazu veranlassen, selbst zu töten, denn nichts hassten die Götter so sehr, wie einsam dahinsiechende Seelen und Hagenbuch selbst war sich darüber bewusst, dass auch er im Laufe seines Lebens Schaden an seiner Seele genommen hatte. Er hoffte jedoch inständig, dass er den noch verbleibenden Teil bis zum Schluss bewahren konnte. Hagenbuch wanderte durch die Geschichte und befand, dass es immer die Willenlosen waren, die ihre Nachbarn mit Teer bestrichen und im Namen ihres Gottes auf den Scheiterhaufen des Glaubens verbrannten, es waren auch die Schwachen, die sich für Barabas entschieden und ihren Gott ans Kreuz nagelten und es war die immer graue Masse, die denunzierte, zusah, jubelte und dann nichts davon gewusst haben wollte. Es waren immer nur schlichte Worte, die unsere Geschichte prägten, Worte, die sich in das Innerste der Menschen schlichen und sie zum Werkzeug des Teufels machten. Hagenbuch wurde auf einmal von einem kratzenden Geräusch in seinen Überlegungen gestört, das vom Haus seines Nachbarn zu kommen schien. Er schüttelte nur wissend den Kopf und sank wieder zurück in seinen großen Sessel.

 

Sein Nachbar hatte zu früher Stunde damit begonnen, den ersten Schnee so schnell wie möglich wegzuschaufeln und Hagenbuch konnte, so sehr er sich auch bemühte, darin keinen Sinn erkennen. Überhaupt war ihm dieser Mensch in höchstem Maße suspekt, ja geradezu unheimlich geworden. Noch vor Jahren hatte er sich immer wieder mit ihm unterhalten, so wie man dies unter Nachbarn eben tut, doch erinnerte sich Hagenbuch genau daran, dass dieser Mann nie eine eigene Meinung hatte, wenngleich er auch zu jeder Frage, die man direkt an ihn stellte, eine Ansicht zu haben schien. Mit den Jahren wurden die Gespräche immer seltener und Hagenbuch konnte ihn schließlich nur noch aus der Ferne beobachten, wie er täglich seinen seltsamen Verrichtungen nachging, unauffällig und ohne auf sich aufmerksam zu machen. Das Leben musste ihm schwer zugesetzt haben und wie es schien, war ihm nichts geblieben, außer dem Garten vor seinem Haus. Jetzt in dieser Jahreszeit ging seine blasse Haut in der weißen Umgebung nahezu auf und seine dunklen Augen stachen wie kleine Knöpfe aus seinem Gesicht hervor. Seine ganze Erscheinung verriet die grenzenlose Leere, die sich in ihm breit machte, seit er damals seine Frau verloren hatte. Hagenbuch war ob dieser Feststellung sehr verwundert, denn soweit er dies aus seiner Erinnerung noch nachvollziehen konnte, war es diese Frau, die ihm erst den Willen zum Leben nahm, ihn wie einen alten Zweig zerbrach, der im Herbst vom Baum gefallen war. Aber die Ermordung der Seele eines Menschen stand schließlich nicht unter Strafe, ließ sie doch den Körper als lebende Hülle bis zur elenden Verwesung zurück. Die Integrität aber, so folgerte Hagenbuch, konnte in solch einem Körper ebenso wenig überleben, wie die Freiheit, die der Mensch zum Leben so dringend brauchte. Aus diesen Seelen wurden Mörder gemacht und Hagenbuch dachte darüber nach, wie erschreckend ähnlich sie sich doch waren.

 

Hagenbuch war nicht müde. Er war nur erschöpft und da der Nachbar seine sinnlose Tätigkeit inzwischen beendet hatte, entschloss er sich auf den Friedhof zu gehen. Friedhöfe waren für Hagenbuch ein Platz des Nachdenkens, der Harmonie und wohl der einzige Ort, an dem er sich jemals zuhause und eins mit der Natur gefühlt hatte. Der Tod hingegen war für Hagenbuch eine nicht enden wollende Faszination und zugleich der Trost, der ihn auch jetzt noch am Leben hielt. In seinen Jugendjahren hatte er immer wieder die Bekanntschaft mit dem Ewigen gesucht und den Tod herausgefordert, der ihm jedoch aus unerklärlichen Gründen bis zum heutigen Tage fern geblieben war. Doch zwischen all den Kreuzen, Grabsteinen und liebevoll hergerichteten Gräbern fühlte er sich wohl und wenn er sich die Gräber genauer betrachtete, so sah er in ihnen nicht nur eine Ruhestätte, sondern die Türe in eine andere Welt. Immer wieder stand er vor verlassenen Gräbern und manchmal verstrickte er sich so in die Gespräche mit den Toten, dass er dabei gänzlich die Zeit vergaß. Gerade heute hätte Hagenbuch sein Leben gerne für einen Sinn aufgegeben, aber er konnte einen solchen in seinem Dasein nicht erkennen. Allein der Tod hatte noch einen positiven Einfluss auf sein Leben, das im Nichts zu verschwinden drohte. Hagenbuch hatte Angst. Seine Hände zitterten als er verspielt nach den Schneeflocken griff, wie er es schon als Kind immer gerne getan hatte. Er war heimatlos, vergessen und liegen gelassen. Hagenbuch lebte nicht immer so zurückgezogen. In seinen besten Jahren reiste er viel um die Welt, sah sich fremde Länder und Kulturen an und verstrickte sich in allerlei weltliche Unternehmungen, die ihm zwar ausreichend materielle Mittel bescherten, ihn aber keineswegs in Sicherheit brachten. Hagenbuch streckte seine zitternde Hand aus und streichelte eines der Holzkreuze, das an einen kleinen Jungen erinnerte, der erst vor Kurzem gestorben sein musste. Doch auch im Angesicht des Todes blieb ihm völlig unklar, warum er sich so sehr ängstigte.

 

Hagenbuch hatte sich auf eine der vielen Holzbänke gesetzt, die überall im Friedhof herumstanden und den Besuchern die Gelegenheit gaben, sich auszuruhen. Doch an diesem Tage war er ganz alleine und so erlaubte er sich unbemerkt in Gedanken über die vielen verlassenen Gräber zu ziehen, sich an den Namen und den Inschriften zu ergötzen und in Zeiten zu entfliehen, die längst vergangen waren. Ganz in diesen Zustand versunken, nahm Hagenbuch nicht einmal wahr, dass sich ein weiterer Besucher heimlich in seine Nähe geschlichen und genau vor ihm Platz genommen hatte. Ein schwarzer Rabe saß nun vor ihm auf dem Grabstein und wippte ungeduldig von einem Bein auf das andere, solange, bis Hagenbuch endlich von dieser Kreatur Kenntnis genommen hatte. Als sich ihre Augen schließlich trafen, erhellte sich Hagenbuchs Gesicht und er lächelte den schwarzen Freund an, denn man kannte sich schließlich. Seit einigen Monaten gesellte sich dieser gefiederte Kamerad immer wieder zu Hagenbuch, wenn er hier auf dem Friedhof seine Zeit verbrachte. Hagenbuch griff in seine Manteltasche und reichte dem Raben zum Gruß ein Stück Käse, das er für ihn mitgebracht hatte. Der Rabe zögerte wie immer für einen Augenblick, legte seinen Kopf leicht auf die Seite und schnappte dann entschlossen nach dem Käse. Zusammen sahen sie auf die verschneiten Gräber und Hagenbuch begann davon zu erzählen, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hatte, er schilderte seine bizarre Begegnung mit dem Nachbarn und vor allem sprach er über seine Angst. Der Rabe saß nur regungslos neben Hagenbuch und starrte ihm tief in die Augen, doch Hagenbuch verstand und übergab seine Angst dem Raben, für diesen Moment, diese Stunde. Zusammen flogen sie aus dem Friedhof hinweg und Hagenbuch fühlte sich endlich sicher, griff fest in die glänzenden schwarzen Federn seines Freundes und ließ sich einfach tragen. Er wusste, wohin die Reise gehen würde, wohin ihn der Rabe entführen wollte, denn es gab zwischen den Beiden keine Geheimnisse.

 

Hagenbuch saß auf einem Hügel und blickte über den See, der sich um die grünen Berge und Wiesen zog und langsam im Dunst der Ferne verschwand. Am nahen Ufer konnte er die kleine verfallene Burg erkennen, in der er mit seinen Tieren wohnte. Hier war er einst aufgewachsen, ein Mensch geworden und hier wollte er sterben. Überall sah er kleine Mauern, die aus einzelnen Steinen gebaut worden waren und die Landschaft in eigenwilliger Weise durchzogen. Es war sein Land, seine Welt und sein Blut, das durch jeden Baum und jeden Bach floss und vor langer Zeit die Erde seiner Heimat tränkte. Er war nicht mehr Hagenbuch. Er war Baum, war Fluss und Vogel. Hoch über ihm kreiste sein Freund der Rabe und Hagenbuch konnte mit dessen Augen über die Berge und Täler sehen, die diese Welt so einmalig formten. Er konnte fühlen, wie sich die Sicherheit, die diesem Land so eigen war, in seine Seele drängte. Sein Freund der Rabe ließ sich majestätisch vom Wind tragen und glitt langsam zu ihm, bis er wieder vor ihm auf dem kalten Grabstein saß. Noch immer starrten sie sich in die Augen und Hagenbuch wusste, dass es jetzt Zeit war zu gehen und den Weg nach Hause anzutreten. Der Rabe flog in die anbrechende Nacht und rief Hagenbuch aus einem Baumwipfel nach bis dieser die Mauern des Friedhofes hinter sich gebracht hatte.

 

Ja, es hatte begonnen zu schneien. Viel zu früh für diese Jahreszeit. Hagenbuch saß wieder allein in seinem dunklen Zimmer und lauschte dem gleichmäßigen Takt der kleinen Uhr, die er vor Jahren in einem Antiquitätenladen in China erstanden hatte. Er konnte jede Sekunde spüren, wie sie sich langsam durch den Raum quälte und von der nächsten abgelöst wurde. Die Zeit, so dachte sich Hagenbuch, war eine bizarre und bisweilen sogar lächerliche Erfindung der Menschen, die uns nichts als Unheil gebracht hatte. Es gab keine Zeit, nur Unendlichkeit. Langsam verkrampfte sich jetzt sein Magen und Hagenbuch konnte sich nicht mehr bewegen. Er war nicht mehr anwesend. Vor seinen Augen erschienen plötzlich Bilder, die sich wahllos abwechselten und wieder verschwanden. Er versuchte sich an einem dieser Bilder festzuhalten, doch wurde er bei diesem Versuch nur noch tiefer in das Gewirr von Erinnerungen und Schmerzen gezogen, solange, bis ihm endlich die Kraft versagte und er allen Schmerz aus sich herausbrüllte und den Tränen freien Lauf gab.