schneeraben.de - Philosophische Reisevorbereitungen von Thomas H. Jäkel
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Das Skriptorium
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Prolog
Gedanken
Gedichte
Realitäten
Surrealitäten
Prolog
Meine Träume und Ideen haben sich über all die Jahre nicht verändert und doch sind viele Dinge anders gekommen, als ich mir das einst vorgestellt hatte. Veränderungen hatten sich lautlos und fast unbemerkt eingeschlichen und das Licht durch Schatten ersetzt, dunkle Wolken, die sich getarnt als Zwänge und Notwendigkeiten in mein Leben drängten und alles unter Beschlag nahmen. So fanden in diesen Jahren nur wenige meiner Gedanken ihren Weg in die Welt des Wortes. Aber auch die Bedeutung des Wortes scheint sich über die Jahre verändert zu haben und in vielen Bereichen unseres Lebens sind Worte zu kläglichen Seitenfüllern und Platzhaltern verkommen. Leider geht diese Entwicklung auch mit einer schleichenden geistigen Verarmung einher, welche sehr beklagenswert ist. Kritische Gespräche oder ein interessanter und anspruchsvoller Schriftwechsel sind inzwischen eher selten geworden und weichen kurzen Nachrichten, die jeder linguistischen Basis zu entbehren scheinen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich die Menschen nicht mehr viel zu sagen haben.
Worte sind wie Bilder und entfalten ihre wahre Wirkung in der Regel erst in einem Kontext und vor allem in der jeweiligen Komposition. Sie sind Bestandteil unserer Sprache und damit die wesentliche Komponente unserer Kultur. Worte sind nicht nur Kommunikation und Austausch von Information, sondern ein essenzielles Medium komplexer Gefühle und Gedanken. Wer könnte die Kraft und Tiefe eines Mephistopheles leugnen, wenn dieser sich mit Faust im Studierzimmer bespricht und den Leser in eine faszinierende Welt entführt, die weit in die existenziellen Tiefen der menschlichen Seele reicht. Doch muss man nicht den Ansprüchen des Herrn Geheimrats genügen, um sich selbst der eigenen Sprache zu bedienen, sie zu erforschen und zu nutzen.
Das Kapitel „Skriptorium“ unterteilt sich in die Rubriken Gedanken, Gedichte, Realitäten und Surrealitäten und umfasst damit verschiedene Innen- und Außenbeziehungen von Artikeln, die sich mit realen Gegebenheiten befassen, über losgelöste Gedanken bis bin zu surrealen Themen und Träumen. Wie die anderen Kapitel dieser Seite ist auch das Kapitel „Skriptorium“ unfertig und wird über die Jahre weiter ergänzt und vervollständigt. Solange eben, bis die Reisevorbereitungen letztlich abgeschlossen sind und das ganze Buch zu Ende gelebt ist.
Realitäten
Surrealitäten
Katzenloch
Ein Reisebericht
von
Thomas H. Jäkel
Juliette wird mir nie verzeihen, dass ich Romeo die Türe geöffnet und ihn habe gehen lassen. Seit diesem Tag starrt sie mich unentwegt an, geht mir vorsichtig aus dem Weg und in ihren goldgelben Augen kann ich entfernt den Schein der Scheiterhaufen erkennen, die sich durch die Schreie der Jahrhunderte gebrannt haben. Ich allein trage die Schuld, und auch wenn dieser Tag nur noch das Ende meines kläglichen Versuches darstellte, die Pläne Gottes zu durchkreuzen, um so der Sinnlosigkeit ein für alle Mal den Garaus zu machen, so habe doch ich diese Türe geöffnet, ohne selbst über die Schwelle zu treten. Er trieb sich schon so lange in dieser Gegend herum und konnte nicht verstehen, dass dies die Türe ist, die alles ändert. Ich kenne das nur allzu gut, denn ich lebe schon viel zu lange hier vor dieser Türe, habe viele kommen und auch gehen sehen und durfte doch nie selbst über diese Schwelle treten. Das Leben öffnet viele Türen, eine davon ist diese.
1
Ich war ein Wunschkind, einer dieser Geister also, die man rief und dann trotz aller Bemühungen einfach nicht mehr loswird. Und doch haben sich ausgerechnet die ersten Jahre nach meiner Ankunft fast vollständig meiner Erinnerung entzogen, ganz so, als hätten sie für mich im Grunde nie stattgefunden. Diese Leere empfand ich zunächst aber nicht als schmerzlich, denn ich saß nun, ganz im Einklang mit vorherigen Ereignissen, bewegungslos vor einer Wand und träumte meinen Traum zu Ende, den ich lange zuvor begonnen hatte. In diesem Traum wanderte ich am Tag meiner Abreise über die sanften Hügel, die mich mit dem nahe gelegenen See verbanden und ich empfand dabei eine seltsame Traurigkeit, die mich mit einer Angst erfüllte, wie ich sie so nie zuvor empfunden hatte. Meine Schritte waren zögerlich und forsch, denn ich folgte ja nicht nur einem inneren Drang, sondern entfernte mich auch Schritt für Schritt von allem, was mir dort lieb geworden war. Vor Tagen noch war dieser See für mich ein Ort, den man in seiner Schönheit und Anziehungskraft zwar betrachten, aber doch nie aus freien Stücken besuchen würde, und jetzt lief ich geradewegs darauf zu.
Von diesem See ging eine beängstigende Faszination aus und wer immer sich seinem Ufer bislang auch genähert hatte, ging unwiderruflich verloren, verschwand oder kehrte erst nach vielen Jahren wieder an diesen Ort zurück. Manche hatte man nie wieder gesehen und glaubt man den Geschichten, die dort im Tal erzählt werden, dann weht der Wind in dunklen Nächten die Rufe dieser verzweifelten Seelen bis ans nahe Ufer des Sees herüber. Doch an diesem Tag ließ ich mich ganz in der Harmonie und Zuversicht des Moments treiben und genoss das seltene Gefühl, gewollt zu sein. So blieb ich an der letzten Wegkreuzung kurz stehen, hielt inne und blickte ein letztes Mal zurück auf die grünen Hügel mit all den kleinen Häusern, in denen meine Freunde ihr Zuhause hatten. Ich atmete noch einmal tief ein und ließ mich vom Duft der frischen Blüten und der feuchten Erde betören. Es war ein wundervoller Ort.
Doch nun zog mich der See immer stärker in seinen Bann und die Vorahnung auf das, was sich hinter dem Nebel am anderen Ende des Sees verbergen sollte, erfüllte mich mit großer Erwartung und ebenso banger Hoffnung. Ich machte mich nun entschlossen auf, die letzten Biegungen des Weges hinter mich zu bringen und erreichte schon bald das Ufer des Sees. Dort blieb ich gespannt stehen und blickte mich um, suchte das Ufer und den See ab, konnte jedoch nichts entdecken, was mir eine Antwort auf meine Frage geben konnte, wie ich den See überqueren sollte. Stunden mussten dabei vergangen sein, denn irgendwann bin ich über meine Suche in tiefen Schlaf versunken und erst wieder aufgewacht, als die untergehende Sonne sich mit langen Schatten von mir für diesen Tag verabschiedete.
Mit dem Licht verschwanden auch die Bilder und Figuren, die tagsüber von den Wellen gezeichnet wurden, und schon bald legte sich der dichte Nebel leise und unauffällig über die Landschaft. Nichts war mehr zu erkennen und ich bemerkte nur den kalten Schauer, der mir beim Anblick dieses Schauspiels durch den Körper kroch. Doch dann sah ich einen kleinen Punkt, der sich in meine Richtung zu bewegen schien und nach längerem Hinsehen erkannte ich ein Boot, ohne Ruder, nur ein Boot, das gerade auf mich zutrieb. Der Moment war gekommen, es war Zeit für meinen Abschied und ich setzte mich mit aller Hoffnung, die ich aufbringen konnte, in dieses Boot. Ich schloss meine Augen und ergab mich in die Ereignisse, die ab jetzt dem Willen des Nebels folgen würden.
Mein Boot entfernte sich langsam von den grünen Wiesen, die von den Bergen bis ans Ufer reichten und die gleichmäßigen Wellen des Sees trieben mich immer weiter in den dichten Nebel, der dort über dem Wasser hing. Schon bald verlor alles um mich herum seine klaren Konturen und ergab sich in das alles ersetzende Weiß des Nebels. Formen ohne Bedeutung, Schatten ohne Muster, ein Sein ohne Zeit und Raum. Der Nebel begann sich wieder zu bewegen, nahm Formen an und vermischte sich mit sich selbst. Aus der Ferne waren nun Stimmen zu hören, deren Bedeutung ich leider nicht verstehen konnte, doch zeichneten sich langsam Risse ab, zunächst ganz klein und unscheinbar, bis ich dann die ersten schwachen Lichter zwischen den Nebelschwaden ausmachen konnte.
Da waren Gerüche und Klänge, die sich wie eine Haut um mich legten, mir Gestalt und Form gaben und das Unendliche in mir so fest umschlossen, dass ich schon bald vergaß, was für mich einst das Ganze war. Die Sinne schufen mir den Raum, die Endlichkeit mein Leben. Ich war der kleine Junge, der dort in der Ecke saß und mit seinen Blicken den Traum suchte, der ihn wieder zu den grünen Hügeln an seinem See bringen würde. Ich war das Wunschkind, das eine Wand anstarrte. Es war eben diese Wand, die für die nächsten Jahre mein eigentliches Zuhause und meine Zuflucht werden sollte. Hier also begann mein Leben.
Die ersten Jahre meiner frühen Kindheit habe ich, wie wohl die meisten Menschen, so weit aus meinem Bewusstsein verdammt, dass ich mich daran heute nicht einmal mehr in Umrissen zu erinnern vermag, doch immer wieder bemerke ich, dass ich diese und die darauf folgenden Jahre wohl nie richtig überwunden habe und viele meiner Ängste, die ich noch heute in mir trage, finden ihren Ursprung in dieser Zeit. Es war eine Zeit der Zersetzung, des Zerfalls am Ende der kurzen Sturm und Drang Periode meiner Eltern, die ihren traurigen Höhepunkt in einer nur allzu hässlichen Scheidung fand und mich noch mehr mit meiner Wand und den heilenden Träumen, die sie in sich trug, verband. Aber ich weiß heute auch, dass nichts vergessen ist, ja, nie vergessen werden kann und nie vergessen werden darf, denn es kann auch nie etwas ungeschehen gemacht werden. Die Narben auf unserer Seele sind tief eingebrannt, sind Zeugen der Kämpfe und der Verletzungen, die wir uns im Laufe unseres Lebens zugezogen haben. Diese Narben sind wir selbst, in allen Erniedrigungen und Siegen, die uns geprägt und geschaffen haben. Sie sind die Essenz unseres Seins, unseres Wirkens und unseres Leidens, dem wir zu keiner Zeit entfliehen können. Die spätere Trennung meiner Eltern, deren Kommen in meinen ersten Tagen bereits spürbar war, wird daher niemals ungeschehen machen, was mir diese beiden Menschen angetan, aber auch mit auf meinen Weg gegeben haben. Für mich werden sie immer meine Eltern bleiben, eine Einheit, die nicht einmal der Tod mehr trennen kann.
Wir waren nur einfache Leute und meine Großeltern mütterlicherseits kamen nach dem letzten Krieg als Flüchtlinge aus den böhmisch-mährischen Gebieten hierher ins Schwäbische. So genau konnte ich das nie in Erfahrung bringen, da in meiner Familie über der Zeit vor der Flucht ein sehr dichter Schleier hing und meine stetigen Fragen zumeist nur mit einem wissenden Grinsen beantwortet wurden. In diesen letzten Tagen des Krieges schlugen sie sich jedenfalls gemeinsam über die Grenze nach Österreich, nachdem es sich offenbar herumgesprochen hatte, was die russische Armee mit den deutschstämmigen Bewohnern dieser Gebiete anstellte. Zuerst kamen sie in Wien bei der dortigen Verwandtschaft unter, bevor sie sich dann über Linz bis an die deutsche Grenze und von dort ins schwäbische Amstetten durchgeschlagen hatten. Noch geheimnisvoller war jedoch die Familie meines Vaters, die bei uns mit allen Anstrengungen hartnäckig zu Tode geschwiegen wurde und mir selbst heute noch völlig unbekannt ist. Über manche Dinge wurde eben nicht gesprochen und schon gar nicht mit uns Kindern. Es war alles sehr mysteriös, doch konnte ich aus den Kochkünsten meiner Großmutter unschwer erkennen, dass sie dies im Österreichischen gelernt haben musste. Ich habe nie wieder solch gute Marillenknödel gegessen wie damals.
Mein Vater war ebenfalls aus dieser ominösen Gegend mit seiner Familie nach Deutschland gekommen und irgendwie musste er trotz der Tatsache, dass er, wie so viele andere Flüchtlinge auch, nicht viel mehr als die Kleider auf seinem Leib besaß, dennoch von der Idee beseelt gewesen sein, dass er aus seinem Leben etwas ganz Besonderes machen könnte. Seine Eltern hatten sich schon bald nach der Flucht scheiden lassen, sein Vater heiratete wieder und wohnte mit seiner neuen Frau in der Gegend von Ulm, während mein Vater mit seinen beiden Schwestern zunächst bei der Mutter blieb, die sich jedoch nicht besonders um ihn gekümmert hatte. Auch mein Vater hatte nie von seiner Jugend oder der Flucht gesprochen, hatte keine Geschichten zu erzählen, die mir wenigstens einen Eindruck vermittelt hätten, wie und wo er seine Jugendjahre verbracht hatte. Vater und Mutter kamen, wie die ganze Sippschaft, in gewisser Weise aus dem Nichts, hatten keine Vergangenheit und überließen mich meiner schon immer wilden Fantasie. Vor allem für meinen Vater fing in Deutschland alles wieder ganz neu an und er hatte große Pläne. Was hätte er in seiner Situation schon anderes tun sollen, als seinem Traum von einem erfolgreichen Leben zu folgen?
Arm waren wir alle, doch die Armut meines Vaters musste geradezu abstoßend auf die höchste Instanz der Familieninquisition gewirkt haben, deren unbestrittene Vorsitzende meine Großmutter war. Vielleicht war es gerade dieser Umstand oder auch das innige Verlangen, Fenster und Türen zu öffnen, was meine Mutter so sehr zu meinem Vater zog. Bei den anderen Familienmitgliedern war er jedenfalls nicht willkommen, nicht der Schwiegersohn der Wahl und so musste meine Schwester Susanne den beiden Verliebten als ungeschickter Zufall etwas nachhelfen. Die Schande, die ein uneheliches Kind damals über die Familie gebracht hätte, war zweifellos größer als der Umstand, ausgerechnet meinen Vater in diese Familie aufzunehmen. So blieb er dann auch nach der Hochzeit ein Fremdkörper, ja geradezu ein Bazillus, den man zu bekämpfen und auszurotten hatte. Einen besseren Stern gab es für die Ehe meiner Eltern leider nicht und so mussten sie dann zusammen losgezogen sein, um die Welt für sich alleine zu erobern. Ihre Kindheit jedenfalls hatten sie schon lange verloren.
Aus diesen Tagen gibt es noch alte Fotografien, die meine Eltern verliebt und ausgelassen bei Freunden in Paris zeigen. Mein Vater fuhr schon damals seinen ersten Mercedes, eines dieser kugelartigen Modelle, die sich nicht jeder leisten konnte. Ich bezweifle natürlich, dass er sich das damals schon leisten konnte, aber wer meinen Vater kannte, der weiß, dass ihn dieser kleine Umstand kaum je davon abgehalten hätte, den Lebensstil zu führen, den er für angemessen hielt. Meine Mutter war begeistert und ließ sich von diesem Mann in ein Leben ziehen, das ihr fremd und zuvor sicherlich als unerreichbar galt. Zuhause musste eine derartige Großspurigkeit die Wut auf diesen Emporkömmling noch weiter auf die Spitze getrieben haben und dies schon deshalb, da meine Tante als Lieblingstochter selbst nie einen Mann gefunden hatte und bis heute unverheiratet geblieben ist.
So hatten diese zwei Menschen mit all ihren Idealen, die ihnen noch geblieben waren, versucht, einen eigenen Weg zu gehen und ein Leben zu finden, das ihnen entsprach. Es war ein untauglicher Versuch, wie sich bald zeigen sollte. So nahmen sie in ihrer neu gewonnenen, aber mittellosen Freiheit, unglücklicherweise nur wenige Kilometer von meinen Großeltern entfernt, ihr erstes Quartier in Geislingen an der Steige und beide versuchten dort nach Kräften zu verdienen, was ihnen der Traum abverlangte. Das war nicht einfach. So fand ich mich auch zunehmend bei fremden Menschen wieder, die für mich sorgten, wenn meine Eltern bei der Arbeit waren. Doch war nicht alles schlecht und mit dem ersten richtigen Geld, das mein Vater nach Hause brachte, sind wir dann alle in eine neu gebaute Sozialwohnung am Rande der Stadt gezogen. Wir waren nun so etwas wie eine richtige Familie, mit einem eigenen Zuhause und noch immer von dem Traum beseelt, einmal auch für uns ein besseres Leben zu finden.
Von meinem Fenster aus konnte ich die ganze Gegend bis hin zur Eisenbahnlinie, die uns vom Rest der Stadt trennte, gut überblicken. In den ersten Jahren war dies kein schöner Anblick, da unsere Wohnblöcke, die in ihrer einfallslosen Architektur übergroßen Bienenwaben glichen, ganz einfach in ein unbebautes Gebiet gestellt wurden und dabei hatte man wohl vergessen, die Wildnis vor diesen Schandmalen ebenfalls in ein Wohngebiet zu verwandeln. Für uns Kinder wiederum war dies ein wahres El Dorado und zwischen den Bäumen, Bächen und Erdhaufen waren immer neue Abenteuer zu finden. Es muss ein ganz besonders einfallsreicher Beamter gewesen sein, der dieser ansonsten trostlos anmutenden Siedlung auch noch den vielsagenden Namen „Im Katzenloch“ verlieh. Da musste dann später schon eine deutsche Persönlichkeit sterben, bis man uns endlich in die „Konrad-Adenauer-Straße” umtaufte. Aber dies änderte natürlich das Leben in und zwischen diesen Wohnblöcken auch nicht und in uns Kindern reifte über die Jahre die entscheidende Frage, wie wir es je schaffen sollten, aus diesem Katzenloch herauszukommen. Auch wenn wir Kinder, im Gegensatz zu unseren Eltern, selbst eine Vergangenheit hatten, über die wir auch reden konnten, so hatten wir zumindest diesen Wunsch mit unseren Eltern gemein. Niemand wollte hier freiwillig bleiben, alt werden und sterben. Es musste einfach einen Ausweg geben.
Ganz anders musste die Welt von der gegenüberliegenden Seite ausgesehen haben, wo die Menschen in schönen Einzelhäusern mit kleinen Gärten und einer eigenen Garage wohnten. Dort in der Schlosshalde, die sich hier am Albaufstieg über einen der vorgelagerten Hügel erstreckte, hatte man einen ganz anderen Blick über die Stadt und einige der fünf Täler, für die sie allseits bekannt war, und natürlich konnte man von dort aus auch genau beobachten, was unten im Katzenloch in den Wabenhäusern so vor sich ging. Über all diesen weltlichen Dingen stand in einiger Entfernung das Ostlandskreuz, das man dort am Rande der schwäbischen Alb aufgestellt hatte, um den Vertriebenen aus den böhmisch-mährischen Gebieten zu gedenken. Es war ein beeindruckendes Symbol, übergroß und ganz aus Metall erbaut, das sich dort mahnend über der Stadt erhob. Als kleiner Junge stellte ich mir gerne vor, dass dieses schwarze Kreuz mit all seiner Kraft nur für mich dort stand und niemand sonst es sehen konnte. Noch heute trage ich dieses Bild in mir und in gewisser Weise ist das Ostlandskreuz für mich immer die Verbindung zu dieser Zeit geblieben.
Ich saß gerne vor meinem Fenster, das sich genau neben meiner Wand befand, gab es mir doch die Möglichkeit, diese Welt zu beobachten und auf meine ganz eigene Art Anteil zu nehmen. Im Schutz der Mauern konnte ich stundenlang die Lokomotiven und Güterwagen beobachten, die dort jeden Tag auf den Gleisen verschoben wurden, um dann ihre Weiterreise anzutreten. Mehr als das gab es mir aber einen Ausweg von dem, was sich hier im Inneren zutrug und so saß ich gerne hier, schaute zu, ohne selbst dabei zu sein, ohne zu berühren, was mir ansonsten unangenehm und verachtenswert erschien. In dieser Distanz, die ich mir schon in frühen Jahren akribisch aufbaute, erlebte ich dann auch den jähen Zerfall unserer Familie. Es war nicht, wie man eigentlich erwarten sollte, die Liebe, die meine Eltern füreinander empfanden, die da verschwand, denn, wie ich viele Jahre später erkennen durfte, war diese Liebe selbst über den Tod meines Vaters hinaus ungebrochen und von erschreckender Ehrlichkeit getragen. Aber wie so oft in menschlichen Beziehungen, war es auch hier die Lüge und die Schwäche, die sich heimlich im Inneren dieser schwachen Herzen daran machten, zusammen den Keim der Fäulnis zu legen und alles, aber auch alles zu zerfressen, bis selbst die Liebe, wenngleich auch unberührt und stark, von keinem mehr empfunden werden konnte. All dies hatte seinen Ursprung schon Jahre zuvor und genau genommen trugen meine Eltern diesen Keim bereits zusammen zum Traualtar.
Ich muss an dieser Stelle eingestehen, dass mich mein ansonsten durchaus brauchbares Gedächtnis für diesen Zeitraum doch eher im Stich lässt und mir eine genaue Schilderung der Ereignisse, die sich damals in unserer jungen Familie zutrugen, schwerfällt. Vielleicht haben die Jahre diese Bilder in Schränke gelegt, die besser nicht geöffnet werden sollten. Vielleicht sind diese Bilder aber auch ganz einfach verblasst und haben den Gefühlen und Eindrücken Platz gemacht, die sich nun wie ein schützender Mantel über die Zeit gelegt haben, die mir kaum einen nennenswerten Augenblick der Harmonie oder Freude zurückgelassen hat.
Das mag natürlich erstaunlich klingen und sicherlich hat mir die seitdem vergangene Zeit ein Bild gezeichnet, in dem das Einzelne als Fundament des Ganzen an Bedeutung und Eigenständigkeit verloren hat. Ich hatte keinen Vater und so sehr ich es mir auch wünschte, er hatte diese Rolle nie für sich in Anspruch genommen, war nie Vater, sondern Besucher und erschien in manchen Akten, nur um gleich danach wieder im Nichts zu verschwinden und seinem Leben nachzugehen, in dem keiner von uns jemals einen wahren Platz hatte. Sicherlich, er verdiente sein Geld als Vertreter und war in dieser Funktion natürlich immer unterwegs, doch war es nicht seine ständige Abwesenheit, die schmerzte, sondern das Gefühl, dass ich auch dann nicht sein Sohn war, wenn er doch einmal meine Hand hielt. Nur an Weihnachten schien alles anders zu sein, denn einmal im Jahr erwachte der Vater in ihm und dieser Tag nährte dann alle Wünsche und Illusionen, die mir den Vater für den Rest des Jahres ersetzen mussten.
Immer am Heiligen Abend sperrte sich mein Vater schon bald nach dem Frühstück im Wohnzimmer ein und blieb dort bis zum späten Nachmittag. Wie man das in allerlei Ritualen tut, saß ich mit meiner Schwester mitunter stundenlang vor der verschlossenen Türe und gemeinsam versuchten wir zu ergründen, was genau in diesem Wohnzimmer vor sich ging. Natürlich hatten wir keine Ahnung, denn der Blick durch die milchige Scheibe der Wohnzimmertüre ließ nur einige Schatten und Silhouetten erkennen und das Schlüsselloch war ganz zu unserer Enttäuschung ebenfalls immer mit einem Tuch bedeckt. So hielten wir uns meist an die Geräusche, die da zu uns auf den Gang drangen und unsere Spekulationen nahmen bisweilen geradezu fantastische Züge an. Irgendwann am Nachmittag wurden die Geräusche und Bewegungen im Wohnzimmer immer weniger, bis endlich diese unheimliche Stille eintrat. Wir saßen auf das Äußerste gespannt noch immer vor der Türe und dann kam die Dämmerung, die gerade in den Wintermonaten für mich immer etwas Mystisches mit sich brachte. Es war schön meine Schwester neben mir zu wissen, so wie sie immer neben ihrem kleinen Bruder stand und ihm half, die Dämonen zu vertreiben. Und dann löschte die Mutter alle Lichter in der Wohnung, sodass nur noch ein warmes, gelbliches Licht aus dem Wohnzimmer zu uns auf den Gang drang. Stille. Warten. Alles setzte sich langsam ab, die Gedanken verloren sich und alle Fantasien waren plötzlich verschwunden. In diesem Nichts entwickelte sich nun der zarte Klang einer kleinen Glocke und dann öffnete sich auch die Türe für uns. Es mussten tausend Lichter gewesen sein, mit denen die weißen Engel spielten und wenn ich je in meinem Leben fassungslos war, dann muss es genau dieser Moment gewesen sein. Es war ein Schauspiel ganz besonderer Güte und alle waren wir da, Vater, Mutter und wir Kinder. Es erfüllte mich mit einem solchen Glücksgefühl, dass ich auch heute, am Abend meines Lebens, noch immer mit Freude daran zurückdenke. Es ist das einzige Geschenk meiner Eltern, das mir ein Leben lang geblieben ist und dafür bin ich ihnen dankbar.
Doch all dies änderte sich dann sehr schnell, denn am nächsten Morgen war nicht nur der Heilige Abend vorbei, sondern es zog auch spürbar der Alltag wieder in unsere Familie ein und das bedeutete, dass man nun all den Dingen nachging, die jeder auf seine Art für wichtig hielt. Soweit ich mich heute noch daran erinnern kann, nahm uns der Vater am Tag nach der Bescherung zum Mittagessen in den Gasthof zum Stern, der nicht allzu weit von uns entfernt im Zentrum von Geislingen lag. Es war ein gutbürgerliches Restaurant mit einfachen Tischen und Stühlen und noch heute frage ich mich, was mein Vater an diesem Ort so anziehend fand. Aber dafür gab es reichlich zu essen und wir durften uns bestellen, wonach es uns am meisten gelüstete. Zwischen Kartoffelsalat und handgeschabten Spätzle entging mir allerdings nicht, wie der Vater allmählich verschwand und schon bald gab ich auch meine kindlichen Anstrengungen, seine Aufmerksamkeit für mich zu gewinnen, auf. Es war nicht zu verkennen, dass mein Vater hier an diesem ungemütlichen Ort sehr bekannt war und sich nun allen möglichen Menschen zuwandte, die uns armen Hinterbliebenen absolut unbekannt waren. Man kannte ihn hier und es hatte den Anschein, als wäre er nun wieder unter Freunden, in seiner Welt, dort wo er sein Leben führte und nicht Vater, Ehemann oder Schwiegersohn sein musste. Es schmerzte plötzlich, an diesem Tisch zu sitzen. Meine Mutter zog sich dann auch widerwillig in eine Nebenrolle zurück, verstummte zusehends und schrie sich innerlich die Seele aus dem Leib. Die Menschen irren, wenn sie glauben, dass ein kleines Kind eine kranke Seele nicht erkennen kann und so begann ich auf meine Art, vom Vater Abschied zu nehmen. Es sollte ein Abschied für immer sein.
Was damals begann und im Gasthof zum Stern so schmerzlich zutage trat, setzte sich in den folgenden Monaten und Jahren fort und erfüllte mich und meine Schwester mit einer tiefen Angst. Die Besuche des Vaters wurden zunehmend seltener und ich vermute, dass ihm ein Kinderfest schon ausgesprochen lästig gewesen sein musste. Immer öfter fand ich mich nun alleine mit meiner Schwester in unserem kleinen Kinderzimmer wieder, während sich unsere Eltern im verschlossenen Wohnzimmer heftig stritten. Daran war nichts Mystisches mehr und es war auch keine Glocke mehr zu hören. Die weißen Engel hatten dem Teufel Platz gemacht. So änderte sich das heimische Bühnenbild, und sobald mein Vater das Haus dann im Zorn verließ, übernahm nun die Großmutter und meine Tante Christine das Feld. Damit hatte meine Mutter aber auch ihre letzte Chance verspielt. Es war eine groß angelegte Heimholung ins Reich, die mit der konsequenten Zerstörung des Feindes begann und mit dem Verlust der Persönlichkeit meiner Mutter endete. Was immer auch meine Eltern in dieser Zeit versuchten, um ihre Ehe noch zu retten, war nun sofort Gegenstand der Diskussion im Familienrat, dessen Urteil sich meine Mutter im Grunde immer fügte. So fand mein Vater bei jeder Heimkehr eine andere Welt vor und nichts von all den zuvor vereinbarten Zielen und Vereinbarungen hatte auch nur die geringste Bedeutung. Da mag es dann kaum verwundern, dass die seltenen Zusammentreffen dieser Kontrahenten sogar in heftigen Handgreiflichkeiten endeten und mein Vater schließlich dem gesamten Familienrat Hausverbot erteilte. Doch dies war schon lange nicht mehr sein Zuhause und ein solches Verbot löste sich schon am nächsten Morgen wieder in Luft auf, sobald er das Haus verließ und sich auf seine übliche Reise machte.
Meine Mutter liebte meinen Vater und auch das Leben, das er führte. Er setzte sich gerne über allerlei Konventionen hinweg und an seiner Hand fühlte sie den Reiz, den ein freies Leben in uns Menschen erzeugen kann. Mit jedem weiteren Schritt, den sie aus dem engen und bedrückenden Elternhaus wagte, erwachte eine tief empfundene Lebensfreude in ihr, die unbedingt nach mehr verlangte. Und dann kamen wir, die Kinder. An Händen und Füßen gefesselt musste sie nun zusehen, wie mein Vater in dieses noch immer von ihr so sehr geliebte Leben fuhr und sie alleine mit diesen lärmenden Bälgen zurückließ. So wie ein kleiner Mephistopheles hatte sie mein Vater aus dem dunklen Burgverlies befreit, ihr die Freuden des Lebens gezeigt und sie dann mit einem schelmischen Grinsen in diesem Katzenloch zurückgelassen. Hier war nicht Paris und auch nicht München, hier gab es keine illustren Partys mit französischem Rotwein und Zigarren, hier in den Wabenhäusern gab es nur Arbeiter, die jeden Morgen mit dem Zug zum Daimler fuhren und am Abend ihre Bierkästen leerten. Doch sie hatte Träume, gelebte Träume und zu denen gesellten sich schon bald der Neid und die Eifersucht. Meine Mutter war nie eine starke Frau, und auch wenn sie diesen Eindruck bei vielen Menschen immer wieder hinterließ, war ihre Härte doch nur die schwere Verbitterung und Enttäuschung, die sich im Laufe der Jahre um diese traurige und schwache Seele gelegt hatte.
Ihr Fluchtversuch war ein für alle Mal gescheitert und das wusste sie, doch hatte sie nie die Kraft oder den Mut sich einzugestehen, dass sie allein ihr Schicksal schrieb und sich damals weigerte, den alles entscheidenden Schritt durch offene Türen zu wagen. Gründe wurden geschaffen, andere wuchsen langsam an den Türen empor, bis sie den Blick in die Freiheit dann vollständig versperrten und ein beruhigendes Bild der Ausweglosigkeit zeichneten. Es war vorbei, sie konnte meinem Vater nicht folgen und so kam uns Kindern plötzlich eine neue Rolle zu, die wir viele Jahre zu spielen hatten und die immer dann in den Mittelpunkt des Geschehens rückte, wenn sich in ihrem weiteren Leben wieder einmal eine solche Türe öffnete. Wir wurden zum Grund, zu einem klebrigen, alles übertünchenden und zugleich beruhigenden „wenn ich euch nicht gehabt hätte“. Natürlich hatte es mein Vater in dieser Zeit dann auch selbst reichlich übertrieben und ich denke, dass unser letzter gemeinsamer Familienurlaub in Caorle dann den Schlussstrich unter diese Ehe zog, als mein Vater mit geradezu dreister Gleichgültigkeit seine Freundin im Nebenzimmer des gleichen Hotels einquartierte. In den Jahren, die diesen Ereignissen folgten, wurde die Schuld am Scheitern der Ehe vom Familienrat so lange alleinig meinem Vater angelastet und mit immer neuen und noch fürchterlicheren Geschichten garniert, bis mein Vater schließlich zum Sinnbild des Bösen wurde und dem Antichristen damit ein menschliches Gesicht zu geben schien. Es galt diese über alles erhabene Familie vom Geruch dieses verhassten Ungeziefers zu befreien und meine Mutter von ihrer Sünde freizusprechen. Doch die Wurzeln dieser vermeintlichen Sünde reichten tief bis in ihre Seele und nährten dort auch weiterhin die Sehnsucht nach einem Leben, das sie selbst ihren Händen entgleiten ließ. Nun aber musste sie Buße tun, sich dem unfehlbaren Urteil der Inquisition bedingungslos unterwerfen und fortan das Leben führen, das ihr zugewiesen wurde. Der Machtwechsel war vollzogen und alles war nun wieder so, wie es immer hätte sein sollen. Nur uns Kinder hatte nie jemand gefragt.
2
Die Wohnblöcke hier waren terrassenförmig angeordnet, sodass man sich beim Verlassen des Hauses immer in einer Art Schlucht befand. Auf den betonierten Wegen in diesen Schluchten spielte sich dann auch der größte Teil des Lebens ab, wobei nach einer eher seltsam anmutenden Ordnung, jedem Hauseingang ein bestimmter Abschnitt der Schlucht zugeordnet war und man sich in feindlichem Gebiet befand, sobald man seinen Teil der Schlucht verließ. Auf diese Weise wurden nicht nur die einzelnen Stämme mit ihren Häuptlingen zuverlässig getrennt, sondern es wurde gleichzeitig auch sichergestellt, dass man bei der im Schwäbischen heiliggesprochenen Kehrwoche auch nur den Schmutz der eigenen Leute wegzukehren hatte. Natürlich gab es auch die Plätze zwischen den einzelnen Wohnblöcken, in die man sich in der Regel aber nur in Begleitung des eigenen Stammes wagte.
In meinem Abschnitt waren wir nur wenig Kinder und so holten wir uns Verstärkung vom Nachbareingang, wo Frank Marchewitz wohnte, der dort oft ganz alleine war. Er wurde schon bald mein bester und vielleicht sogar mein einziger Freund, den ich im Katzenloch je hatte und, obwohl uns verschiedene Hauseingänge trennten, konnten wir uns doch von unseren Balkonen aus prächtig unterhalten. Zusammen mit der schönen Petra Ender und ihrem Bruder waren wir dann schon fünf Kinder in unserem Teil der Schlucht. Leider hatten unsere Eltern die für uns so wichtige Freundschaft nie zum Anlass genommen, sich selbst zumindest einmal besser kennenzulernen und meiner Mutter schien ohnehin jeder, der hier im Katzenloch wohnte, ausgesprochen suspekt zu sein. Sie nannte es einen „schlechten Umgang“, aber da es hier nun mal keinen besseren Umgang gab, musste sie sich wohl mit einem wachenden Auge mit dieser Tatsache abfinden. Das fiel ihr dann besonders schwer, als die kleinen Häusler Brüder hier ins Katzenloch zogen und ich ein klares Verbot erhielt, diesen schlimmen Buben auch nur nahezukommen. Im Laufe der Jahre wurde diese Liste länger und länger und es schien mir fast, als wäre ich hier im Vorhof der Hölle angelangt. Überdies kann ich mich nicht an eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der wir Besuch von anderen Kindern hatten und so blieb mir nur die Bösenliste, die mir hinlänglich wenig Raum für ein gehorsames Verhalten ließ.
Zum Glück hatte ich noch meine Wand, vor der ich viel Zeit verbrachte und die mir die einmalige Gelegenheit bot, all die Abenteuer zu erleben, die mir mein Leben im Katzenloch so schmählich vorenthielt. Auf der Straße hatte sich nichts verändert und das Leben schien dort, auch ohne meinen Vater, seinen gewohnten Gang zu gehen. In mir sah das natürlich ganz anders aus und der nun endgültig verschwundene Vater fehlte mir doch sehr. Es ist schwer zu sagen, warum ein ohnehin flüchtiger Vater ein tiefes Gefühl der Minderwertigkeit in mir erzeugen konnte, denn alles, was mir jetzt fehlte, hätte ich auch mit ihm nicht erlebt. In gewisser Weise war ich jetzt nicht mehr vollständig und fühlte mich immer dann von den Anderen ausgeschlossen, wenn diese von ihren Vätern erzählten. Mit mir ging niemand auf den Fußballplatz zum SC Geislingen und auch sonst verpasste ich alles, was Söhne gewöhnlich mit ihren Vätern tun. Dieses vaterlose Dasein musste einen Vorteil haben, doch all meine Überlegungen führten zu keinem Ergebnis, da die mitunter strenge Hand der Mutter schon die Idee eines freien und ungezwungenen Lebens schnell im Keim erstickte. Außer mir gab es nur noch meinen Großvater, der jedoch schon damals vom Matriarchat des Familienrates bis zur Wortlosigkeit unterjocht wurde und seine Zeit mit ausgedehnten Spaziergängen oder ganz alleine in seinem Garten verbrachte. Auch wenn mein Großvater in dieser Zeit für mich die wichtigste Person war, so konnte er weder den Vater ersetzen, noch konnte er ausreichend Schutz vor all der Femininität bieten, die mich von allen Seiten her bedrängte.
Ich musste also meine Abenteuer selber suchen und fand unweit von unserem Wohnblock eine Stelle, die geradezu geeignet dafür war, mir den Zugang in eine Welt zu verschaffen, die alles das in sich verbarg, wonach ich mich im Inneren sehnte. Es war eine kleine Quelle im Wald, die etwas abgehoben am Albaufstieg zwischen dem Katzenloch und der Schlosshalde lag. Von dort konnte man leicht die ganze Gegend übersehen und hatte zudem einen guten Blick auf den kleinen Fußballplatz, den man dort notdürftig für das Katzenloch angelegt hatte. Es war perfekt, denn selten verirrten sich andere Kinder in diesen Teil des Waldes und durch die Äste der Bäume konnte man alles sehen, ohne dabei selbst beobachtet zu werden. Hierher kam ich immer dann, wenn es mich nach der freien Natur sehnte und ich mich im schützenden Dunkel des Waldes verstecken wollte. Hier konnte ich mit meinen wahren Freunden reden, die immer bei mir waren, wenn ich sie brauchte und die mir mit ehrlichem Rat zur Seite standen, wenn ich an der häuslichen Situation zu zerbrechen drohte. Zuhause konnte ich ja nur in meine Wand versinken, aber hier bei der Quelle konnte ich meine Träume ausleben und ich bin noch heute ganz froh darüber, dass mich dabei nie jemand beobachtet hatte, denn auf einen Außenstehenden musste es zumindest höchst seltsam gewirkt haben, dass ein kleiner Wicht sich mit anderen Wesen unterhielt, die augenscheinlich gar nicht anwesend waren. Aber was wissen die Menschen schon von diesen Dingen, die überall um uns sind und nur für den sichtbar werden, der ihre Anwesenheit spürt und ihre Existenz zum Leben zu erwecken vermag. Für mich jedenfalls war die Welt hier an der Quelle schön und hätte mich von Zeit zu Zeit nicht der Hunger geplagt – ich wäre wohl nie wieder zurückgegangen.
Ich war mir damals schon sicher, dass die Welt ohne Menschen ein wunderbarer Ort sein konnte, und wollte nicht verstehen, warum dieser Robinson Crusoe seine Insel jemals verlassen hatte. Doch bald holte auch mich der Alltag ein und mit dem Tag meiner Einschulung begann eine Reise, die mich zunächst in die Uhlandschule und später bis nach China führen sollte. Meine Schulzeit war ausgesprochen langweilig, was zum einen an den nützlichen, aber doch inhaltsleeren Fächern lag und zum anderen am Auftauchen der täglichen Routine, die mir schon von Natur aus immer verhasst und unangenehm war. Selbst einem Fach wie Zeichnen und Malen wurde hier konsequent die ganze Freude genommen und es ist mir nie klar geworden, was ein Lehrer von seinen Schülern erwartet, wenn er sie dazu auffordert, genau jetzt und hier einen Elefanten zu zeichnen. Meine Elefanten sahen ohnehin nie aus wie Elefanten, doch das war offensichtlich auch nicht von geringster Bedeutung. Aber die Tatsache, dass ich meinen geliebten Bleistift noch immer nutzte, obwohl der nur noch aus der Spitze und einem winzigen Stück Holz bestand, verschaffte meiner Mutter eines dieser persönlichen Gespräche, die man führt, um die Aufsässigkeit und Impertinenz des Sprösslings ausführlich zu besprechen. Was immer die Lehrer in diesen geheimnisvollen Treffen mit meiner Mutter auch besprachen, es hatte in der Regel außer einer Tracht Prügel keine weiteren Auswirkungen auf mein Leben, das auch ohne diese unliebsamen Einmischungen schon schwer genug war.
Jeden Morgen führte mich mein Weg aus dem Katzenloch zur Uhlandschule an einer Straßenkreuzung vorbei, an der mir eine Gruppe von Kindern auflauerte, deren einziger Lebensinhalt darin zu bestehen schien, mich zu drangsalieren und bei Bedarf windelweich zu schlagen. Es waren Kinder aus der Schlosshalde, ein Umstand, der mir unmissverständlich zeigte, dass das Böse auch vor den reichen Familien nicht haltmachte und der menschliche Geist ganz offensichtlich eine tiefe Befriedigung darin findet, andere zu demütigen und zu verletzen. Da ich von meiner Statur her viel zu schwach war, um mich gegen diese Horde von sadistischen Quälgeistern zu wehren, musste ich mich der Kreuzung immer vorsichtig und mit Bedacht nähern. Am besten war es, wenn ich zuvor noch ausreichend Zeit auf dem Weg verbrachte, da das bei diesen einfältigen Schergen den Eindruck entstehen ließ, dass ich an diesem Tag wohl nicht kommen würde. An anderen Tagen musste ich mir den Weg mit meinem Pausenbrot freikaufen und dann den Rest des Tages hungrig verbringen. Aber nicht immer kam ich so glimpflich davon und einmal erwischten sie mich auf meinem Heimweg, als ich mich gedankenverloren und unachtsam der Kreuzung näherte. An Bestechung war nun nicht mehr zu denken, da ich das Pausenbrot längst gegessen hatte und so erreichte ich schließlich unsere Wohnung heulend und mit heftig blutender Nase. Meine Hoffnung, dass dieser jämmerliche Anblick die überschäumende Wut der mütterlichen Sorge zur Folge haben würde, wurde jedoch schwer enttäuscht, denn anstatt gegen diese perfiden Angreifer mit wehenden Fahnen zu Felde zu ziehen, schimpfte meine Mutter ausgerechnet mich, das Opfer, weil ich mich nicht gewehrt hatte und mir so etwas gefallen ließ. Wieder einmal musste ich mein Schicksal also selbst in die Hand nehmen, und da meine Schwester diese Horde kaum beeindruckt hätte, wandte ich mich vertrauensvoll an die Häusler Brüder. Hier nun fand ich den Geist, den ich suchte und schon am nächsten Morgen traf ich mich heimlich in aller Frühe mit den geächteten Helfern, die mir schützend bis zu jener Kreuzung folgten und sich dort mutig den Angreifern stellten. Aus sicherer Distanz beobachtete ich aufmerksam, wie die Häusler Brüder diese Angelegenheit auf ihre besondere Art für mich lösten und mich für immer von diesen Attacken befreiten.
Meine Mutter nahm von dieser wichtigen Veränderung keine Kenntnis und ich hätte ihr von dieser gelungenen Rettung auch nie erzählen können, da ich damit zwar mein Leben sehr erleichterte, aber gleichzeitig gegen ein Verbot verstieß. Derartige Verstöße trugen immer das Risiko in sich, dass meine Mutter versuchte, die nötige Erkenntnis mithilfe eines Kochlöffels oder eines Teppichklopfers in mich hinein zu prügeln. Überhaupt schien sie an meinem Innenleben ansonsten nicht sonderlich interessiert zu sein, denn solange die Schulnoten akzeptabel waren und ich auch ansonsten keine Dummheiten machte, bestand für sie offensichtlich keine Veranlassung, sich der Seele zu nähern, die sie sich einst gewünscht hatte. Doch den pflegeleichten Sohn, den sie sich nun wünschte, gab es genau so wenig, wie die pflegeleichte Tochter.
So war es nur allzu natürlich, dass ich meine Sorgen und Nöte immer mit meiner älteren Schwester Susanne besprach und gemeinsam schmiedeten wir unsere geheimen Pläne und Intrigen, um den Familienrat als höchste Instanz für unsere eigenen Vorhaben und Interessen zu gewinnen. Das war nicht einfach, denn wo Stolz und persönliche Macht die Triebfedern des Handelns sind, da spielen kleine Kinder eben nur eine unwichtige Nebenrolle. Es galt also immer den Moment abzuwarten, wenn sich die ständig ändernden Allianzen zu unseren Gunsten entwickelten, was immer dann der Fall war, wenn wir im familiären Ränkespiel Mittel zum Zweck wurden und einem Spieler zum Nutzen gereichten. Sobald also die Mutter in Ungnade fiel, standen die Chancen gut, dass sie sich davon wieder freikaufen würde und was eignet sich dafür besser als dem Wunsch des Rates nachzugeben und einer Bitte zu entsprechen, die wir zuvor bereits bei der Großmutter hinterlegt hatten. Das funktionierte eigentlich immer, denn meine Mutter war zu allem Unglück auch noch finanziell von der Familie abhängig, da der spärliche Unterhalt, den mein Vater nach der Scheidung zahlte, kaum dafür ausreichte, die anfallenden Kosten abzudecken. Das hatte die Mutter dem Vater ohnehin nie verziehen, dass er erst nach der Scheidung zu Geld kam und ihr dann mit seinem aufwendigen Lebensstil vorlebte, was sie mit ihm gehabt hätte. So nutzte eben jeder die Intrigen des Hofes für seine eigenen Belange und mit jedem Sieg rückten wir alle ein kleines Stück weiter auseinander. Nach dem Vater verschwand nun auch die Familie.
Es mag daher kaum verwundern, dass meine Schwester und ich schon bald ein Eigenleben führten und die uns verbliebene Familie als notwendiges Übel empfanden. Meine Zeit an der Uhlandschule hatte ich mit eher geringem Aufwand hinter mich gebracht und meine Leistungen waren sehr davon abhängig, ob ich mich nun anstrengte oder nicht. Die Aussicht auf eine Aufnahmeprüfung für das Gymnasium war schon schlimm genug, aber die Idee einer frühen Lehrzeit erschreckte mich so nachhaltig, dass ich es geradezu mit der Angst zu tun bekam. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals einer geregelten Arbeit nachzugehen. Ich musste also den Sprung ins Gymnasium schaffen, da ich mich auf diese Weise mit dem Ausblick auf ein späteres Studium noch auf viele Jahre hin von jeglicher Arbeit fernhalten konnte. Dieser Übergang stand für mich schon sehr bald an, da ich in die Zeit der Kurzschuljahre fiel und meine Ausbildung an der Grundschule deshalb schon viel früher abschließen musste. Der plötzliche Anstieg meiner Schulnoten musste bei meiner Mutter wohl ernsthaftes Erstaunen ausgelöst haben, denn ich schaffte die Aufnahme ins Gymnasium ohne eine weitere Prüfung.
Ganz anders wirkte sich die häusliche Situation auf meine Schwester aus, denn über die Jahre wuchs in ihr das Fernweh und damit die Bereitschaft, sich allem zu widersetzen, was ihren Aufenthalt in dieser Familie auch nur irgendwie verlängern konnte. Sie begann sich zu verweigern, und da die schulischen Leistungen in den Augen der Mutter ganz besonderes Gewicht hatten, boykottierte sie fortan jegliche Bemühung und alle Erwartungen, die an sie gestellt wurden. Ihren Augen konnte ich jedoch unschwer entnehmen, wie sehr es ihr Freude bereitete, die Mutter mit ihrer Sturheit geradezu in den Wahnsinn zu treiben. Einmal saßen die beiden zusammen im Kinderzimmer und Susanne sollte laut vorlesen. „Ein dicker, schöner, roter Apfel“ war da laut und deutlich zu hören, obwohl dieser Apfel im Buch keineswegs dick war. Die Mutter bat sie daher, diesen Satz nochmals zu lesen, doch auch nach dem zwanzigsten Mal war es eben „ein dicker, schöner, roter Apfel“. Natürlich hatte außer mir niemand wirklich Kenntnis von den wahren Gründen genommen, die diesen Apfel so hartnäckig „dick“ machten. Von nun an wurde meiner Schwester dann auch die notwendige Intelligenz für eine höhere Ausbildung abgesprochen. Alles lief also nach Plan, denn ein frühzeitiger Schulabbruch oder der Beginn einer Lehrzeit waren willkommen und hätten ihr das so ersehnte Verlassen des Elternhauses ermöglicht. Aber noch war es nicht so weit und weitere Maßnahmen waren von Nöten, um diesen Schritt endlich in greifbare Nähe zu rücken.
An manchen Tagen hatten wir die Mutter wieder ganz alleine für uns und durften sie so erleben, wie sie in ihrem Herzen immer war. Es waren die Tage, an denen es keine familiären Streitigkeiten gab und sie entspannt und glücklich war. Wir Kinder schnitten Zwiebeln, Paprika und allerhand Gemüse und die Mutter bereitete das Fleisch vor, denn es gab ungarisches Gulasch mit handgeschabten Spätzle oder Semmelknödel, eine ihrer ganz besonderen Spezialitäten. Wir sprachen über Alltägliches, die Schule, ihre Arbeit und das Leben hier im Katzenloch. Wir schleckten vom frischen Teig und garnierten alle Zutaten mit lautem und herzlichem Gelächter. Für wenige Stunden waren wir eine Familie und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als diesen Moment für immer festhalten zu können. Wie schön es doch gewesen wäre, wenn wir nicht hier in Geislingen, sondern weit weg in einer anderen Stadt gewohnt hätten. Doch leider waren wir hier gestrandet, liegen gelassen und dem eisernen Willen der Großmutter unterworfen, deren Ziele und Absichten alleine Gott verstehen mochte.
Irgendwann jedoch begann meine Mutter sich spürbar zu verändern und anders als sonst, hielt dieser Zustand verdächtig lange an. Zunächst bemerkten wir mit tiefem Erstaunen, dass sich die Mutter dem Rat zu widersetzen begann und die über sie hereinbrechenden Stürme mit Mut und Stolz weitgehend unbeschadet überstand. Auch der Teppichklopfer blieb da, wo er hingehörte und statt dessen führten wir lange Gespräche, vereinbarten gemeinsam Lösungen und halfen uns bei all den anfallenden Problemen, bei denen zuvor jeder sich selbst überlassen war. Schon bald versammelten wir uns dann eines Abends gemeinsam im Wohnzimmer und erfuhren, dass ein weißer Ritter mit scheinender Rüstung in ihr Leben getreten war und es ihr inniger Wunsch war, dass wir ihn schon bald kennenlernen sollten. Wir lebten schon so lange in dieser Enklave, dass wir dem Treffen auch sofort und ohne weitere Umschweife zustimmten, denn wer in der Lage war, die Lebensfreude in unserer Mutter so spürbar wieder zum Leben zu erwecken, der konnte kein Schlechter sein. Sein Name war Franz Depil, und auch wenn er in meinen Augen kein stolzer Ritter war, so war er doch einer der freundlichsten und liebevollsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Von nun an änderte sich unser Leben so nachhaltig, dass wir in unserem Überschwang beinahe vergaßen, dass unser kleiner Fluchtversuch genau beobachtet wurde. Aber das war nun nicht mehr allzu wichtig, denn wir fuhren mit dem Franz in die Berge, gingen auf den Sportplatz und unternahmen all die Dinge, nach denen wir uns alle sehnten. Es war eine schöne Zeit.
Doch der Franz war selbst noch verheiratet, ein Umstand, der uns Kinder in keiner Weise störte, beim Rat jedoch auf pures Entsetzen stieß. Der Franz musste also vor den hohen Rat, zur Begutachtung, denn es hatte allen Anschein, als wollte er für immer bei uns bleiben. Er machte sich prächtig, war freundlich, zuvorkommend und vor allem geduldig. Doch die Gastfreundschaft, die ihm hier beim großen Rat in Amstetten zuteilwurde, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für ihn hier keinerlei Sympathien gab. Die aufgesetzten Mienen verschwanden rasch mit jeder Schüssel, die in die Küche getragen werden musste und durch die angelehnte Küchentüre drangen eitler Spott und gehässiges Gerede. Nun lag es wieder einmal an der Mutter, ob sie diesen Weg zu Ende gehen wollte, denn der Franz war fest dazu entschlossen. Für ihn war all dies nur eine störende Kleinigkeit, die sich der Liebe zweier Menschen unterzuordnen hatte. Er war bereit sich scheiden zu lassen, um meine Mutter zu heiraten und er hätte alles getan, um uns ein guter Freund und Vater zu sein. Doch dazu kam es nicht und seine Besuche wurden immer seltener, bis er dann ganz aus unseren Augen verschwand. Auf uns wartete nun wieder das alte Leben und von Franz Depil hörten wir nur noch ein einziges Mal, nachdem er sich Monate später selbst das Leben genommen hatte.
Meine Mutter hatte in den Jahren nach der Scheidung zu arbeiten begonnen und so blieb mir ausreichend Zeit neben dem Gymnasium alleine meinen Träumen nachzugehen. Meine Hausaufgaben machte ich im Büro meiner Mutter, die damals als Sekretärin in einer benachbarten Schule arbeitete. Die mir verbleibende Zeit verbrachte ich gerne mit ausgedehnten Spaziergängen, um möglichst viel von der Welt außerhalb des Katzenlochs zu sehen. Auch musste ich irgendwie der Einsamkeit entfliehen, da meine Schwester Susanne inzwischen das Haus verlassen hatte und in einem Mädcheninternat in Rottenburg am Neckar untergebracht war. Für sie war das trotz all der vielen Einschränkungen ein erster und wichtiger Schritt in die Freiheit und ich hörte ihr immer gerne zu, wenn sie an den Wochenenden, die sie bei uns zu Hause verbrachte, von ihren vielen Abenteuern und Erlebnissen berichtete.
Meine Erlebnisse fanden dagegen im Stillen statt, denn von all den Kindern in meiner Klasse fand sich keiner, den ich meinen Freund nennen wollte. Meine Streifzüge führten mich oft in den Stadtpark, wo ich den Vögeln und Eichhörnchen zusah, wie sie ihren täglichen Verrichtungen nachgingen. Aber auch die Menschen, die dort ihre Spaziergänge machten, fanden mein Interesse und ich stellte mir oft vor, was dies wohl für Seelen waren, die da gedankenverloren auf Bänken saßen oder mitunter hektisch ihren Kindern hinterherliefen. Es war eine ausgesprochen friedliche Atmosphäre und der Wechsel der Jahreszeiten gab dem Park immer wieder ein neues Aussehen. Hier fanden auch die größeren Feste statt und vor allem beim Fest der Sudetendeutschen kam ich gerne mit meinem Großvater hierher, wenn er sich hier einmal im Jahr mit seinen Landsleuten traf. Obwohl ich ansonsten größere Ansammlungen eher vermied, empfand ich diese Zeit mit meinem Großvater immer als sehr beruhigend und sah uns auch an den Tagen nach dem Fest immer noch an einem dieser Biertische sitzen.
Doch diese Momente waren eher selten und an vielen Tagen zog es mich an den Bahnhof, da hier immer viel zu beobachten war. Geislingen liegt direkt am Albaufstieg, etwa in der Mitte des Weges zwischen Stuttgart und Ulm, und in diesen Tagen schafften es die Züge meistens nicht aus eigener Kraft, diesen Anstieg zu bewältigen. So hielten die Züge aus Stuttgart immer hier in Geislingen an und erhielten eine zusätzliche Lokomotive für den Weg auf die Alb bis zum nächsten Bahnhof in Amstetten. Das alles war in höchstem Maße aufregend und ich ließ mir oft viele Dinge von meinem Großvater erklären, der selbst lange Jahre bei der Bahn gearbeitet hatte. Überhaupt war mein Großvater ein ausgezeichneter Lehrer und er war auch der Einzige, dem ich stundenlang zuhören konnte. Seine Geduld war nahezu grenzenlos und zu meiner Begeisterung konnte er mir immer alles erklären, was meinen jungen Geist damals beschäftigte. Ich wäre allein wohl kaum auf die Idee gekommen in einem Weltatlas zu lesen, da es dort für mich nichts zu lesen gab und mich die Erfahrungen aus dem Erdkundeunterricht von allem abschreckten, was auch nur wie eine Landkarte aussah. Doch mit meinem Großvater wurden diese Karten zu wahren Geschichten und Isar, Lech und Inn flossen nicht nur zur Donau hin, sondern es gab da auch viele Geschichten über die Menschen und die Landschaft, die dieser faszinierende Fluss so sehr prägt. Zusammen besprachen wir die Geheimnisse der Mathematik und mit jedem krummen Nagel oder einem rollenden Ball öffnete er ein weiteres Kapitel der Physik und erlaubte mir so, die Welt in einem faszinierenden Licht zu sehen und zu verstehen.
Ich liebte ihn, denn er wollte nie den Vater ersetzen, sondern Freund und einfach Großvater sein. Von ihm lernte ich, wie man sich rasiert oder Schuhe neu besohlt, wie man einen Komposthaufen anlegt und Vögel an ihren Liedern erkennt. Ich liebte die Ruhe, die er ausstrahlte und seine Begabung, die einfachsten Dinge zu einem Erlebnis zu machen. Wann immer es mir möglich war, begleitete ich ihn auf seinen langen Spaziergängen, die uns durch Amstetten und die angrenzenden Felder führten. Im Dorf gab es wohl keinen Menschen, den er nicht kannte und unsere Spaziergänge wurden immer wieder durch kurze Gespräche unterbrochen, die er an einem Gartenzaun oder beim Bauern im Kuhstall führte. Ich sah, wie das köstliche Bauernbrot dort im Holzofen gebacken wurde, und durfte mit Hand anlegen, wenn die Kühe gemolken wurden. Die Welt war ein faszinierender Ort geworden.
Im Sommer und im Herbst zog es uns oft auf die Felder und während er langsam mit seinem Spazierstock auf den engen Wegen dahinschritt, hielt er meine Hand, erzählte mir ein bisschen von seiner früheren Heimat, von seiner Jugend und dem Leben, das man damals dort führte. Es waren Schilderungen der einfachen Dinge des Lebens, Brauchtum, Traditionen und Bilder von Landschaften, die ihn ganz offensichtlich glücklich machten und mit Stolz erfüllten. Doch all diese Erzählungen verschwanden um das Jahr 1933 im Nichts und wurden erst wieder nach der Flucht hier in Amstetten lebendig. Ich habe ihn aber nie nach dieser Zeit gefragt, nie bedrängt, und ich akzeptierte, dass er darüber nicht reden wollte. Was immer der Grund für dieses Schweigen war, er selbst schien nicht besonders stolz auf diese Jahre seines Lebens gewesen zu sein. Vielleicht war es besser so, denn es hätte wohl keinen Unterschied gemacht. Ich liebte meinen Großvater.
Die Felder waren für mich ein besonderer Ort und jedes Mal war ich ungeduldig und gespannt, ob wir an diesem Tag wieder die Haselmaus treffen würden. Die Haselmaus war eine alte Frau, die auf den Feldern Kartoffeln aufklaubte und bis ins kleinste Detail meiner damaligen Vorstellung von einer Hexe entsprach. Sie hatte lange, braune Haare, die ihr in ungeordneten Strähnen über das von der Sonne gegerbte Gesicht hingen und sie trug immer diese weiten Röcke, die wie bunte Tücher über ihre Beine fielen und sich geheimnisvoll über den Boden legten, wenn sie kniend nach den Kartoffeln griff. Ihre Sprache stammte aus einem vergessenen Land und einer ebenso vergessenen Zeit, denn man musste sich erheblich anstrengen, um sie zu verstehen. Sie war ein Herz von einem Menschen und von ihr erfuhr ich dann auch, wie man den Himmel lesen kann, wann es nach Regen und wann nach Sonne aussieht. Manchmal lud sie uns zu einer Brotzeit ein und wir saßen dann bei frischem Brot, Käse und Speck auf dem Kartoffelfeld und genossen den Sommer, den man nur so richtig erleben kann.
An anderen Tagen spazierten wir durch das Dorf, kauften noch ein paar Dinge beim Metzger ein und verschwanden dann im Garten meines Großvaters. Es war nur ein sehr kleiner Flecken Land, den er da am Rande der Bahnlinie hatte, doch mit all den Blumen und Gemüsesorten, die er dort anpflanzte, betrat man mit dem Öffnen der kleinen Holztüre, eine andere Welt. Dort war sein eigentliches Zuhause, sein Zufluchtsort, wo er Ruhe und Frieden fand. Dort erhielt ich oft Rat und Hilfe, wenn ich wieder einmal mit meinem Leben im Unreinen war und mein Großvater legte in diesem Garten die vielen kleinen Grundsteine, die mein weiteres Leben so nachhaltig bestimmen sollten. Ich glaube nicht, dass ich je wieder einen Menschen getroffen habe, dem ich so tief vertraute und der mich so sehr für das liebte, was ich nun einmal war.
Meine eigenen Spaziergänge, die ich nach der Schule unternahm, ließen den Großvater schmerzlich vermissen und endeten gelegentlich in Tränen, wenn mir die Last der Einsamkeit zu schwer wurde. Doch es waren nicht nur die vielen Stunden, die ich mit mir selbst verbrachte, sondern auch die Schwierigkeiten, die ich mit der Schule hatte. So einfach sich der Abgang aus der Grundschule gestaltete, so schwierig wurde es nun im Gymnasium. Natürlich hatte ich mir dies zu einem großen Teil selbst zuzuschreiben, denn entgegen jeder menschlichen Logik, entschied ich mich für den altsprachlichen Zug und durfte mich nun mit der lateinischen Sprache herumschlagen. Eine Entscheidung übrigens, die mich noch bis zum großen Latinum verfolgen und plagen sollte. Es war mir nachhaltig unklar, was an diesem Gymnasium so anders war und so konnte ich dem stetigen Zerfall meiner Noten nur noch zusehen und hoffen, dass mir bald ein schützender Engel erscheinen und mich vor dem drohenden Untergang erretten würde.
In diesem Elend erschien mir auch tatsächlich ein Engel, zumindest empfand ich das damals so, aber dieser Engel löste keines meiner Probleme, sondern schickte sich zu allem Übel auch noch an, in mir eine Sehnsucht zu wecken, die mir bis dahin völlig unbekannt war. Ihr Name war Anette Redeker und sie musste das schönste und edelste Geschöpf gewesen sein, das Gott jemals auf diese Erde geschickt hatte. Sie wohnte gleich in der Straße neben meiner Schule und, nachdem ich sie dort auf einem meiner Spaziergänge zum ersten Mal gesehen hatte, verfolgte mich ihr Anblick bis tief in meine Träume hinein. In jedem Heft und auf jedem Zettel meines Schulranzens war ihr Name zu finden, obwohl ich noch nie ein Wort mit ihr gesprochen hatte. Ich beobachtete sie bei jeder Gelegenheit und wartete geduldig in der Nähe ihres Hauses, bis sie endlich nach draußen kam. Sie anzusprechen hätte ich mir nie getraut, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie je mit mir gesprochen hätte. Statt dessen fand ich immer neue Plätze, an denen ich auf sie wartete und die es ihr unmöglich machten, mich auf die Dauer zu übersehen. Auf diese Weise mussten Wochen und Monate vergangen sein, bis sich allmählich unsere Blicke erst zögerlich und dann ganz bewusst suchend fanden. Doch mein Mut reichte nicht aus für weitere Heldentaten und so übernahm sie schließlich den ersten Schritt und sprach mich an. Ja, sie musste ein Engel gewesen sein, eines dieser Geschöpfe, die einem unverhofft erscheinen, die man aber nie haben kann. Eines Tages jedoch sagte sie mir, dass sie mit ihrer Familie umziehen würde und ich begriff sehr schnell, dass ich meinen Engel damit für immer verloren hatte. Wir waren nur Kinder und doch habe ich meinen kleinen Engel für den Rest meines Lebens nie vergessen, auch wenn ich sie nie wieder gesehen habe.
Ich konnte natürlich nicht ausschließen, dass dies die Rache Gottes war, denn schließlich wurde ich ja erst nach der Scheidung meiner Eltern getauft und lebte die Jahre zuvor als Heide, wenngleich auch nicht gänzlich gottlos. Auch kam mir der Gedanke, dass Gott eine hämische Freude daran haben musste, mir ständig Dinge zu zeigen, nur um sie mir auch gleich wieder wegzunehmen. Wie dem auch war, ich nutzte die folgenden Wochen, um, ganz im Sinne dieses Gottes, in meinem Leid aufzugehen und mich mit der sinnlosesten aller Fragen zu beschäftigen. Warum musste all dies mir passieren? Meine vielen kleinen Sünden konnten kaum eine solche Strafe begründen und seit meiner verspäteten Taufe ging ich auch immer ganz reumütig zur Beichte.
Eine gewisse Erleichterung erfuhr ich dann, als mir klar wurde, dass derartige Ungerechtigkeiten auch andere Menschen trafen und mein Freund Frank Marchewitz war ein lebendes Beispiel dafür. Mit ihm verbrachte ich in den folgenden Monaten mehr Zeit als sonst und er hatte dabei keine Mühe, mich ganz schnell auf andere Gedanken zu bringen. Im Gegensatz zu meinem Zimmer, das ich bisher mit meiner Schwester teilte, hatte er sein Zimmer ganz für sich allein und was darin zu finden war, ging weit über die wenigen Karl May Bücher hinaus, die ich zu bieten hatte. Am meisten beeindruckte mich, dass er Schallplatten hatte und die Bravo lesen durfte. So verbrachten wir Stunden mit Kartenspielen, bauten gemeinsam Modellflugzeuge zusammen und ließen Musik über die kleinen Lautsprecher dröhnen. Natürlich durchsuchten wir auch alle im Hause verfügbaren Zeitungen nach Bildern mit nackten Frauen, da wir ganz offensichtlich eine nicht zu tolerierende und erhebliche Bildungslücke hatten und uns entsprechend auf diese Eventualität vorbereiten mussten. Überhaupt war seine Welt ganz anders, wenngleich auch er sehr viel Zeit allein verbrachte. Vielleicht musste das ja so sein.
Ansonsten verlief mein Leben hier im Katzenloch eher ereignislos, wenn man einmal von gelegentlichen Verletzungen und sonstigen Dingen absieht, die einem in diesem Alter so passieren. Die Mutter wagte in dieser Zeit noch einen kleinen Ausbruchsversuch, der in der Nachbarschaft für lebhafte Gerüchte sorgte, da dieser Herr Thiebe aus München immer mit seinem laut dröhnenden MG Sportwagen vorfuhr, um meine Mutter abzuholen. Doch persönlich hatte ich ihn nie kennengelernt und auch er versank schon bald in der Erinnerung. Was uns blieb, war ein Leben zwischen Geislingen und Amstetten und kaum einmal schaffte es ein Außenstehender, in diesen Kreis einzubrechen. Wochenenden, Urlaube und Feiertage fanden immer unter Ausschluss der Welt statt und so gab es kein Entrinnen von dem Wahnsinn, der sich nun langsam, aber mit beängstigender Sicherheit entwickeln sollte. Die Freude auf einen lang ersehnten Skiurlaub fand schon nach wenigen Stunden ein jähes Ende, als sich meine Mutter und die Tante Christine auf der Autobahn in dem voll besetzten Opel Kadett die Pfirsiche ins Gesicht warfen, wie man das unter Geschwistern wohl so tut, wenn man unterschiedlicher Meinung ist.
Am schlimmsten gestalteten sich jedoch die üblichen Festtage, denen wir Kinder inzwischen nur noch mit Bangen entgegen sahen. Als Hauswirtschaftslehrerin schickte sich die Tante Christine immer an, für die Gerichte zuständig zu sein, wobei es ihr anscheinend entgangen sein musste, dass es immer das Gleiche zu essen gab. Da wurde dann das besondere Porzellan mit dem britischen Muster aus dem Schrank geholt, da sich die Tante ganz sicher war, dass wir von königlicher Abstammung waren. Aus diesem Grunde wurde auch der Großvater schon bei dem ersten Teller Suppe harsch zurechtgewiesen, da er sich erdreistete, eben diese Suppe zu schlürfen und nicht in adliger Manier zu sich zu nehmen. Alles verlief nach Protokoll, doch war es kaum zu verhindern, dass schon bald zutage trat, was diese Familie eigentlich verband. Die Argumente wurden lauter, man bezichtigte sich gegenseitig der Lüge, da ging es um Inkompetenz und schlichte Dummheit und jeder hatte ganz offensichtlich jedem das Leben ruiniert. Zum Finale stand meine Mutter dann immer auf, blickte uns Kinder kurz an und lief mit einem strengen „wir gehen jetzt“ zielgerichtet zur Türe, ohne dabei zu vergessen, die letzten Gemeinheiten in das elterliche Wohnzimmer zu schleudern. Manchmal erreichten wir nicht einmal den Nachtisch, sodass uns die Großmutter noch schnell die übliche Zitronencreme zum Mitnehmen einpackte. Bei der Heimfahrt schwor meine Mutter bei allen Heiligen, dass sie dort nie wieder hingehen würde, doch diese Heiligen mussten sehr nachgiebig gewesen sein, denn nach der üblichen Schweigewoche wurde wieder telefoniert und der nächste Feiertag endete genau wie der letzte.
Es war keine gute Zeit und mit den Jahren wurde es auch um meinen Vater immer ruhiger. Zunächst sah es so aus, als würde er den Kontakt zu uns Kindern auch weiterhin pflegen, doch schon bald wurde klar, dass wir in seinem Leben keinen Platz mehr hatten. Natürlich war es immer aufregend, wenn mich der Vater an einem Wochenende im Katzenloch abholte und wir dann in seinem Mercedes hinaus in die Stadt fuhren. Einmal nahm er mich mit auf die Alb und ich durfte auf seinem Schoß sitzen und das Auto lenken. Ein anderes Mal fuhren wir bis nach Stuttgart, wo wir dann essen gingen und danach seine Firma besuchten. In gewisser Weise war ich stolz auf meinen Vater und seine Erscheinung beeindruckte mich sehr. Er trug immer weiße Hemden und hatte eine Vorliebe für schmale, gestrickte Krawatten. Wo immer er war, erfüllte ein intensiver Geruch nach Old Spice den Raum und über allem lag der zarte Geruch nach Tabak und Rauch. Er arbeitete damals als Vertreter bei einer Lehrmittelfirma, und als wir sein Büro in der Königsstraße betraten, eröffnete sich mir ein Bild, wie ich es nur aus Märchen kannte. Da waren überall ausgestopfte Tiere, Skelette und riesige Landkarten. Auf den Regalen standen Mikroskope und andere Gerätschaften, deren Verwendung mir damals unbekannt war. In dieser Schatzkammer ließ er mich dann alleine, da er wohl wichtige Dinge mit einem anderen Herrn zu besprechen hatte. Einmal nahm er mich sogar mit nach Italien und wir fuhren wieder nach Caorle, wo wir früher auch mit der Familie Urlaub machten. Irgendwie hatte er bei solchen Dingen eine seltsame Beständigkeit, da er in diesem Caorle auch immer im gleichen Hotel wohnte.
Mein Vater hatte keine Beziehung zu Kindern und meistens kam ich mir überflüssig oder sogar wie eine Last vor. Diese Wochenenden oder Urlaube gestaltete er auch keineswegs für mich, sondern nahm mich eben zu all den Dingen mit, die er auch ohne mich zu erledigen hatte. Immer wieder stellte er mich irgendwo ab oder gab mir eine Beschäftigung, damit mir die Zeit nicht allzu lästig wurde.
Da dies in Caorle etwas schwierig war, zumal er auch noch seine Freundin dabei hatte, überließ er mich kurzerhand dem Sohn des Hotelbesitzers, der glücklicherweise in meinem Alter war. Zusammen erkundeten wir die Gegend und verbrachten die meiste Zeit am Strand vor dem Hotel. Wie so oft schwammen wir mit den Luftmatratzen ins Meer hinaus, um uns von der italienischen Sonne abzukühlen. An einem Tag jedoch trieb es mich trotz meiner heftigen Bemühungen immer weiter ins Meer hinaus, bis ich schon fast das Ende der Wellenbrecher erreicht hatte. Die Strömung wurde so stark, dass ich jede Hoffnung aufgab, aus eigener Kraft wieder an den Strand zu kommen. In meiner Verzweiflung sprang ich einfach von der Luftmatratze und schwamm mit allen meinen Kräften zum nächsten Wellenbrecher. Doch die Brandung war an diesem Tag viel stärker als sonst und es gelang mir nicht, aus dem Wasser zu klettern. Die ankommenden Wellen warfen mich mit aller Wucht gegen die Felsen und zogen mich danach auch gleich wieder zurück ins Meer. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis es mir dann endlich doch gelang, den Fluten zu entkommen und ich erschöpft und blutig auf einem Felsen lag. Mein Vater erfuhr erst am Abend von meinem Missgeschick und seine Besorgnis rührte wohl eher aus der Angst, dass ihn die Mutter dafür verantwortlich machen würde und so musste ich ihm versprechen, dass dies alleine unser Geheimnis bleiben würde. Zur Sicherheit gingen wir am nächsten Tag in die Stadt und ich durfte mir etwas Besonderes kaufen. Es blieb unser Geheimnis, doch wagte ich mich nie wieder weiter ins Meer als bis zu den Knöcheln.
Ich bemerkte, wie mir das Leben langsam fad wurde, und kapselte mich immer mehr von den Geschehnissen um mich herum ab. Ich konnte dann stundenlang unter einem Tisch sitzen und mich in Gedanken verlieren, die mich um die ganze Welt trieben. Doch dazu musste ich eigentlich nicht hier sein, denn an meinem See hatte ich alle Freiheit, die ich mir wünschte. Es war zum Verzweifeln und eine Lösung war nicht in Sicht. Was immer mir in dieser Lage in den Sinn kam, kostete entweder Geld oder bedurfte anderer Menschen. Beides hatte ich nicht und so beschloss ich der Mutter immer wieder ein paar Mark aus dem Geldbeutel zu nehmen, wenn dies die Gelegenheit zuließ. Davon kaufte ich mir immer Süßigkeiten, da diese schnell zu verzehren waren und ich gleich bei meinem Diebstahl ertappt worden wäre, wenn ich andere Dinge nach Hause gebracht hätte, die ich mir ja nie hätte leisten können. Doch auch so konnte ich nicht lange unentdeckt bleiben, da mir die Mutter Fallen stellte und ich natürlich dumm genug war, darauf hereinzufallen.
Die Lage in der Schule wurde ebenfalls schlechter und die Versetzung in die nächste Klasse stand nun ernsthaft infrage. Im Rat wurde daher lange besprochen, was mit mir zu tun sei und meiner Mutter wurde zur Sicherheit die alleinige Schuld an allem zugewiesen, da sie sich nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern würde. Diese Art der Sorge bezog sich natürlich darauf, dass so ein junger Bub eben eine starke Hand brauche, um auf den richtigen Weg zu kommen. Da ganz offensichtlich keinem eine bessere Idee einfiel, blieb erst einmal alles ganz so, wie es nun einmal war und ich begann mich meinem Schicksal zu fügen und ließ mich von einem Tag in den anderen treiben. Doch dann kam der Tag meiner Erlösung. Die Mutter hatte im Stillen Nachforschungen angestellt und für mich einen Platz im bischöflichen Studienheim in Rottenburg gefunden. Wie meine Schwester sollte also auch ich ins Internat. Vielleicht wollte meine Mutter endlich ihre Ruhe und ihren Frieden haben, vielleicht hat sie auch die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ich mich an der Schwelle zur Unerziehbarkeit befand. All dies war mir jedoch ziemlich gleichgültig und ich stimmte sofort zu. Es war ein Tag, wie er schöner nicht hätte sein können.
3
Die Koffer waren gepackt und fanden leicht ihren Platz in dem kleinen Opel Kadett, der mich nun in die Welt bringen sollte. Es ist schwer zu sagen, was in diesem Moment in mir vorging, denn mein Eindruck, der mir von meinem ersten Besuch in Rottenburg geblieben war, begrenzte sich doch sehr auf die Vorfreude, endlich aus diesem Katzenloch wegzukommen und überließ mir ansonsten nur ein allzu diffuses Bild von Nonnen, Priestern und Sälen. Vielleicht ist es ein Privileg der Jugend, sich blind in neue Dinge zu stürzen, ohne sich auch nur im Entferntesten mit den Veränderungen zu beschäftigen, die da auf einen zurollen. In meinem Überschwang nahm ich zunächst nur zur Kenntnis, dass die Wabenhäuser immer kleiner wurden und als wir die Unterführung bei der Eisenbahnlinie hinter uns ließen, da war mir endgültig klar, dass ich mein bisheriges Zuhause verloren hatte und nie wieder einer aus dem Katzenloch sein würde.
Doch nun ging die Reise erst einmal durch die Stadt und ganz so, als wäre es das letzte Mal, versuchte ich mir alle Gebäude, Straßen und Plätze genau einzuprägen. Jetzt erst fiel mir auf, dass Geislingen keine schöne Stadt war und wenig zu bieten hatte, woran man sich später erinnern wollte. Wenn man viele Jahre in so einer Stadt wohnt und ansonsten wenig von der Welt sieht, dann erscheint einem wohl jede Stadt irgendwie lebenswert, wenngleich auch nicht unbedingt als schön. Hier in Geislingen war es immer die Umgebung gewesen, die dem tristen Anblick der Häuserfassaden einen sehr beeindruckenden Hintergrund gab und wer das Schwabenland so liebt wie ich, der wird verstehen, was es bedeutet von einer Burg Helfenstein aus über die Täler hinauszusehen und die Schönheit dieser Gegend in sich aufzunehmen.
Schon bald hatten wir die Stadt verlassen und fuhren durch die unzähligen kleinen Dörfer, die in ihrer Einfachheit eine besondere Schönheit ausstrahlen, und die nur sehr selten zu finden ist. Auf der ganzen Fahrt redete meine Mutter unentwegt auf mich ein und versuchte mir Mut zu machen. Es war gerade so, also wollte sie sich selbst davon überzeugen, dass dieser Schritt für alle, und natürlich besonders für mich, das Beste sei. Auch versprach sie mir, dass ich jederzeit wieder nach Hause ins Katzenloch kommen könnte, wenn es mir im Internat nicht gefallen sollte. Wie wenig sie mich doch kannte, dass ihr selbst auf dieser Fahrt verborgen blieb, wie sehr ich mich nach etwas Neuem sehnte und wie wenig mich an diesem Zuhause noch hielt. Mütter neigen gelegentlich dazu, sich und ihre Rolle maßlos zu überschätzen.
Von außen wirkte das Gebäude auf mich wie eine große Kaserne und auch der Innenhof sah nicht gerade einladend aus. Wir waren also angekommen und mussten dies der entsprechenden Stelle bekannt geben. Alles war eine gut eingespielte Routine. Schon bald hatten wir alle Formalitäten erledigt und fanden uns in einer geradezu elenden Ruhe in einem der Schlafsäle wieder. Ich saß ganz ruhig auf einem Bett, während die Mutter sorgsam den Koffer auspackte und meine Dinge in einen dieser Schränke legte, die den Zöglingen zugewiesen wurden. Wir sprachen jetzt sehr wenig und nur die Mutter bemerkte von Zeit zu Zeit, wie und wann ich welches Hemd und welche Hose tragen sollte. Mit jedem Stück, das sie aus dem Koffer nahm, wurde es noch ruhiger, bis der Koffer dann endlich leer war und es nichts mehr zu sagen gab. Es war Zeit, Abschied zu nehmen. Dies war schwerer als ich vermutet hatte und auch die Mutter versuchte noch aufmerksam in alle Ecken zu sehen, damit nichts vergessen wurde und wir uns nicht in die Augen sehen mussten. Doch die Zeit drängte und so nahmen wir uns nochmals kurz in die Arme, drückten uns kräftig und vereinbarten miteinander zu telefonieren, sobald dies möglich war. Sie sah noch einmal in den Kleiderschrank, den sie gerade erst eingeräumt hatte, und gab mir dann mit einem traurigen Blick zu verstehen, dass nun alles seine Ordnung hatte und sie zurück nach Hause fahren würde. Es musste sie doch sehr geschmerzt haben. Sie umarmte mich nochmals und ging dann zur Türe und verließ den Raum.
Da saß ich nun mit meinem leeren Koffer und der schier endlosen Stille, die diesen Schlafsaal zu dieser Tageszeit erfüllte. Ich hatte noch ein wenig Zeit bis zum gemeinsamen Abendessen und überlegte mir, was ich mit der verbliebenen Zeit noch anstellen sollte. Hier also war ich nun, in einem bischöflichen Studienheim, das man Martinihaus nannte und das ursprünglich einmal für solche Zöglinge vorgesehen war, die später als Priester in den Dienst der heiligen Mutter Kirche treten sollten. Aber die Dinge ändern sich eben und neuerdings soll es sogar Mädchen möglich sein, in diesem Haus eine Ausbildung zu bekommen. Unglaublich, wie sich die Zeiten geändert haben, aber damals war das natürlich völlig undenkbar und das einzig Weibliche, das man hier zu sehen bekam, waren die Nonnen, die im Hause an allen Stellen ihren Dienst taten.
Über diesem Haus lag eine gute Portion Geschichte und ich beschloss, mir das Ganze doch einmal näher anzusehen. In den langen Gängen lag ein seltsamer Geruch nach Putzmittel und Weihrauch. Die mit heller Farbe gestrichenen Wände tauchten den Korridor in ein fast freundliches Licht und doch erzeugte jeder meiner Schritte, der nun durch den Gang hallte, einen tiefen Respekt in mir, wobei ich nicht so recht verstehen konnte, wovor ich eigentlich diesen Respekt hatte. Vielleicht war es auch nur Angst oder Unsicherheit und ich konnte nicht leugnen, dass ich ganz froh über die Tatsache war, niemanden bislang auf diesen Gängen getroffen zu haben. Doch irgendwo mussten die anderen Kinder ja sein und so hatte ich mit jeder Minute damit zu rechnen, auf einen von ihnen zu treffen. Der Gedanke allein beunruhigte mich spürbar, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich mich bei solch einem Zusammentreffen verhalten sollte. Ich blieb stehen und sah mir durch eines der unzähligen Fenster den Innenhof an, auf dem einige der Kinder Fußball spielten. Es zog mich keineswegs auf diesen Hof, nicht jetzt, denn dazu war ja noch hinreichend Zeit. Doch plötzlich hörte ich hinter mir den Klang von Schritten, und als ich mich vorsichtig umdrehte, sah ich zwei Jungen, die genau auf mich zuliefen. Wie sich gleich danach herausstellte, waren es meine Zimmerkameraden und sie wurden wohl vom Heimleiter damit beauftragt, mir alles zu zeigen und sich meiner anzunehmen. Zusammen spazierten wir durch die vielen Gänge und sie erzählten mir allerhand Geschichten und Skandale, die sich hier jeden Tag ereigneten. Ich bedauerte jetzt, dass ich nicht mit all den anderen hier ins Martinihaus gekommen war und erst heute im zweiten Jahr, wie ein Nachzügler, versuchen musste, meinen Platz zu finden.
Das Leben im Martinihaus war wohl geordnet und zum ersten Mal durchzogen Termine meinen Tag. Neben dem üblichen Stundenplan waren nun auch alle Malzeiten, Studierzeiten und selbst die Bettruhe genau festgelegt. Dazwischen fanden sich wenige Stunden, die zur freien Verfügung standen und von den meisten Kindern mit irgendwelchen Ballspielen verbracht wurden. Aber es waren weniger die starren Zeiten, die ich nun zu beachten hatte, sondern vielmehr der Umstand, dass ich ständig und überall von Menschen umgeben war, die sich alle bereits kannten, Freundschaften geschlossen hatten und einem neuen Jungen eher mit ablehnender Zurückhaltung gegenüberstanden. Ich musste beim Essen an diesem Tisch sitzen, aber ich war nicht Teil des Gespräches und verstand meistens schon gar nicht, worüber sich die anderen Kinder unterhielten. Der Tagesablauf zwang mich mit den Anderen in einem Raum zu sein, aber dies war wohl keineswegs ein ausreichender Grund, von mir Kenntnis zu nehmen. Am schmerzlichsten waren die Momente, wenn in der Freizeit Hallenfußball gespielt wurde. Nach einigen Wochen, in denen ich nur als Zuschauer in der kleinen Sporthalle anwesend war, nahm ich mir schließlich ein Herz und zog mir meine Sportsachen an. So saß ich dann am Hallenrand und wartete darauf, dass mich eine der Mannschaften bei sich aufnehmen würde. Doch niemand wollte mich haben und, bis in die Seele erniedrigt, verzog ich mich nach kurzer Zeit wieder in meinen Schlafsaal, um mich dort umzuziehen, damit diese Schande möglichst schnell unsichtbar wurde und in Vergessenheit geraten konnte. Zum Glück ließ der straffe Tagesplan nicht allzu viele Zeiten zu, an denen man sich mit Freunden treffen musste und zur Not konnte ich ja immer noch durch die Stadt spazieren und mir in Ruhe den Neckar ansehen. Diese Stunden erfüllten mich mit einer Traurigkeit, die mehr und mehr die Gewissheit in mir nährte, dass mit mir etwas nicht stimmte und ich geradezu abstoßend auf andere Menschen wirken musste.
Meine zwei Zimmerkollegen waren aus ganz anderem Holze geschnitzt. Sie waren überall bekannt und beliebt, denn sie verbreiteten unentwegt Spaß und wo immer sie sich aufhielten, war auch etwas los. Im Schlafsaal saßen sie oft in einer Ecke zusammen und besprachen irgendwelche Dinge, die sie wie ein großes Geheimnis hüteten. Wann immer ich den Raum betrat, beendeten sie entweder ihr Gespräch oder sprachen plötzlich so leise, dass ich nur noch Bruchstücke davon hören konnte. Umso mehr überraschte es mich daher, als sie mich eines Tages im Schlafsaal ansprachen und mich fragten, ob ich mit ihnen gemeinsam den Nachmittag in der Stadt verbringen wollte. Natürlich stimmte ich sofort zu, obwohl mir keiner der beiden sagen wollte, was sie genau in der Stadt anstellen wollten. Sie sahen sich wissend an und meinten nur, dass sie mir das später sagen wollten, denn sie hätten ein Spiel erfunden, das auch mir bestimmt viel Spaß machen würde. Es gibt Momente im Leben, die einem von Anfang an suspekt erscheinen und ein inneres Unwohlsein erzeugen, das einen erahnen lässt, dass man gerade dabei ist, den Fehler seines Lebens zu machen.
Dies war zweifellos einer dieser Momente, aber da ich nun schon zugesagt hatte, war es nahezu unmöglich, mich ohne Schaden wieder aus der Affaire zu ziehen. Überdies hatte ich ja auch keinen wirklichen Grund, etwas allzu Verhängnisvolles an diesem sonnigen Nachmittag in Rottenburg zu vermuten und so verdrängte ich die aufkommenden Zweifel mit der Begründung, dass ich kein Weichei sein wollte und die Möglichkeit unbedingt nutzen musste, endlich ein paar Freunde zu haben. Gemeinsam zogen wir also los und spazierten gemütlich durch die Straßen und Gassen, bis wir schließlich die Altstadt mit all den kleinen Geschäften erreichten. Dort luden mich meine neu gefundenen Freunde zu einem Eis ein und ich fühlte mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig wohl. Schon bald standen die beiden auf und sagten mir, hier auf sie zu warten, da sie noch kurz etwas zu erledigen hätten. Mit einem leckeren Eis in der Hand ließ es sich hier in der Sommersonne leicht warten und ich lehnte mich faul zurück und sah den beiden zu, wie sie über den Platz liefen und sich den kleinen Ladengeschäften näherten.
Sie blieben stehen, blickten kurz um sich und verschwanden dann in einem Tabakladen. Das also war das Geheimnis. Aber wegen ein paar heimlich gerauchten Zigaretten hätten sie kein solches Geheimnis machen müssen und hätten mir das auch gleich sagen können. Nach wenigen Minuten kamen sie wieder aus dem Laden heraus und beschleunigten ihren Schritt, nachdem sie einige Meter vom Ladeneingang entfernt waren. Bei mir angekommen waren sie nun so in Eile, dass sie nicht stehen blieben, sondern mir zuriefen, gleich mit ihnen zu kommen. Ich verstand natürlich gar nichts, folgte aber dem Aufruf zur Flucht und gemeinsam rannten wir in eine der Gassen, die von diesem Platz wegführten. Dort setzten wir uns im Schatten nieder und meine Freunde schienen sichtlich erleichtert zu sein. Meine Neugierde wurde schließlich befriedigt, als sie mir zwei Feuerzeuge zeigten, die sie jetzt aus ihren Hosentaschen zogen. Nun lernte ich, was sie mit Spiel meinten. Sie zogen regelmäßig durch die Stadt und klauten alle möglichen Dinge in immer neuen Läden, wobei es ihnen ganz offensichtlich nicht auf die erbeuteten Gegenstände ankam, sondern auf den Reiz, bei diesen Raubzügen nicht ertappt zu werden und die Verkäufer mit immer neuen Tricks zu überlisten. Mein Gefühl hatte mich also nicht getäuscht und ich befand mich in einer außerordentlich beklemmenden Situation. Auf der anderen Seite sah ich die lachenden und zufriedenen Gesichter meiner Freunde, die mich davon überzeugten, dass mir nichts passieren könnte, solange ich ihnen vertraute. Es gab also kein Entkommen, denn sie hatten mich bereits bei ihren künftigen Raubzügen voll eingeplant.
Die Anderen im Martinihaus wussten von diesen Expeditionen nichts und ich empfand es fast als eine Ehre, dass ich in dieses Geheimnis eingeweiht wurde. Im Internat zeigten mir meine Freunde nun auch ihr Lager, das sie mit ihren Raubzügen über die Zeit in ihren Schränken angelegt hatten. Was ich da sah, war schlicht beeindruckend, denn da war vom Feuerzeug bis zum teuren Kugelschreiber, Schlüsselanhänger, oder auch einem Taschenmesser einfach alles zu finden. Meine Stellung im Hause hatte sich über Nacht grundlegend verändert, denn ich war nun ein Geheimnisträger und damit in Dinge eingeweiht, die man nicht jedem anvertraut. Durch meine neuen Freunde bekam ich jetzt auch Kontakt zu vielen anderen Kindern, denn ich stand nicht mehr alleine am Rand der Turnhalle herum, sondern war Teil einer illustren Gruppe und durfte jetzt auch beim Fußballspiel teilnehmen. Ich muss gestehen, dass dieser Nachmittag nicht nur mein Leben im Martinihaus veränderte, sondern mir ein Selbstbewusstsein gab, das mir von nun an erlaubte, ohne Furcht und Angst durch die Gänge zu wandern, mich unter die anderen Kinder zu mischen und mit der Zeit sogar im Mittelpunkt zu stehen. Natürlich lag all dies nun auch wie ein Stein auf meinem Gewissen und ich verbrachte anfangs noch viele Nächte damit, mir eine geeignete Entschuldigung zurechtzulegen. Es war einfach spannend nicht brav zu sein und mit der Zeit empfand ich das Unrecht, mit dem ich jetzt lebte, als nebensächlich, an manchen Tagen sogar als banal und die Kritik meines Gewissens führte ich auf meine konservative Erziehung zurück. Schon bald war ich Teil dieser Raubzüge und nach der anfänglichen Angst, die ich schon beim Betreten eines Ladens empfand, kam in mir dieselbe Faszination auf, die meine Freunde antrieb. Wir entwickelten immer neue Methoden, nutzten Schwächen gekonnt aus und wurden dabei immer frecher und gefühlloser, bis wir an manchen Tagen gleich mehrere Läden heimsuchten. Unser Lager wurde immer größer und da wir für die meisten Dinge, die wir da ansammelten, keinerlei Verwendung hatten, begannen wir damit, Messer oder Kugelschreiber an andere Kinder zu verschenken. Das brachte uns hohes Ansehen unter den anderen Kindern und wir drei waren nun jemand.
Noch heute ist mir unklar, wie ich mich in der kurzen Zeit, die ich damals im Martinihaus verbracht hatte, so sehr verändern konnte und ich erlebe diese Zeit heute als etwas Fremdes, gerade so, als wäre ich ohne mein Zutun in eine Schlucht gestürzt, aus deren lichtloser Faszination es kein Entkommen gab. Zwar hörte mein Gewissen nie auf, mir hilfreich zur Seite zu stehen, doch kämpfte diese innere Stimme nur allzu vergeblich gegen die Kräfte an, die ich in dieser Zeit so intensiv in mir verspürte. Ich empfand geradezu ein Glücksgefühl, wenn ich mich mit den Nonnen und Priestern unterhielt und sie mir vom Teufel erzählten, von der ewigen Verdammnis und der Hölle, denn es wurde mir klar, dass diese Menschen davon keine Ahnung haben konnten und ich als Kind dieses Luzifers nun unbeschadet in ihren Reihen wandelte. Zu meiner Überraschung verbrannte ich auch nicht beim Berühren der sonntäglichen Hostie und auf meine Art empfand ich Ruhe und Geborgenheit, wenn ich beim Gebet in der Kapelle meinen üblichen Disput mit Gott führte. Da mich ansonsten niemand haben wollte, lag es nun an ihm und diesem Luzifer, sich für oder gegen mich zu entscheiden. Doch keiner von den beiden gab mir jemals eine klare und vor allem für mich zufriedenstellende Antwort, da ich ganz offensichtlich selbst für die universellen Kräfte des Universums ohne jegliche Bedeutung war. Mehr und mehr begann ich daher, mich dieser inneren Stimme zuzuwenden und meine lebhaften Dispute ganz allein und in mir selbst auszufechten.
Meine Tage im Martinihaus verliefen nun ruhig und ohne nennenswerte Zwischenfälle. Ich führte das ganz normale Leben eines Zöglings und fügte mich anstandslos in den Rhythmus ein, der jeden Tag bestimmte und dafür sorgte, dass wir all die Dinge, die man von uns erwartete, zur vorgegebenen Zeit erledigten. Es war meine Art, Licht und Schatten so miteinander zu verbinden, dass ich mich ohne tiefere Schuldgefühle, sowohl in der einen, wie auch in der anderen Welt bewegen konnte. Da war die Ruhe und Besinnlichkeit, die ich im Martinihaus empfand. Eine ganz andere Art, sein Leben zu gestalten und mit neuen Ideen zu bereichern, die eine Fülle von ebenso neuen Gefühlen und Eindrücken in mir weckten. Wann immer ich die Priester und Nonnen bei ihren täglichen Verrichtungen beobachtete, sah ich darin etwas Starkes, etwas Ruhendes und lehnte mich gerne an dieses Leben an, das ich damals ansonsten kaum verstehen konnte. Doch auf unseren Streifzügen durch die Stadt beherrschten mich das Wilde, das Ungestüme und vor allem die Freiheit, anders zu sein und mich mit jedem Mal erneut gegen alle Regeln und Verbote aufgelehnt zu haben. Keine dieser Welten war mein wahres Zuhause und ich hätte mich weder für das Eine, noch für das Andere entscheiden wollen. Es war die Brücke, die mir Zufriedenheit gab und mir erlaubte, wann immer ich es wollte, auf die eine oder andere Seite zu gehen. Vielleicht taugte ich auch nicht für das Eine und war schlicht zu feige für das Andere.
Wie sich bald herausstellen sollte, musste ich mir diese Frage nicht mehr selbst beantworten, denn, ohne es auch nur im Geringsten zu erahnen, hatten die Dinge bereits begonnen, eine neue Form anzunehmen und die Ereignisse, die nun direkt auf mich zusteuerten, hatten sich schon seit Tagen in Bewegung gesetzt, um zumindest meinen Aufenthalt im Martinihaus gewaltsam zu beenden. Unsere Streifzüge blieben auf die Dauer nicht unbemerkt, dafür waren sie in den letzten Wochen schlicht zu dreist geworden und einige der Ladenbesitzer hatten schließlich Verdacht geschöpft. Wir wurden jetzt beobachtet und ohne es zu wissen, gaben wir unseren späteren Anklägern alle Beweise in die Hand, die sie zu unserer Vernichtung benötigten. In unserer Abwesenheit hatte man unsere Schränke durchsucht und dabei das Diebeslager gefunden, das wir dort in gutem Glauben angelegt hatten. Es war nun also alles klar, die Beweise lagen auf der Hand und es war an der Zeit, die Delinquenten zur Rede zu stellen, um sie dann dem gerechten Urteil Gottes zu überlassen.
In meiner Erinnerung war es ein Tag, der nicht schöner hätte beginnen können. Die Morgensonne brach schon früh in den Schlafsaal und drängte uns förmlich in den Tag. Doch schon bald war mir bewusst geworden, dass dies nicht der Tag war, den ich noch am Morgen erwartet hatte. Ganz unauffällig wurden wir drei gemeinsam zum Präfekten des Martinihauses einbestellt und dies konnte nichts Gutes bedeuten. Schon beim Betreten des Raumes verstummten wir, da wir unsere Beute fein säuberlich auf einem der Tische angeordnet fanden und auch ohne Worte verstanden, was nun mit uns geschehen würde. Die Besprechung war eher kurz und einseitig, da wir alles gestanden und auf jede weitere Erklärung verzichteten. Wie hätte ich diesen grimmigen Gesichtern auch erklären sollen, was all dies für mich bedeutete, welche Rolle die Brücke zwischen diesen Welten für mich spielte und wie unwichtig das vermeintliche Unrecht im Angesicht der Verzweiflung spielen musste, mit der ich seit Jahren zu leben hatte. Wie sollte ein Zehnjähriger diesen ergrauten Menschen begreifbar machen, was es bedeuten kann, nicht mehr Außen zu stehen, sondern Teil zu sein, zur Person zu werden und dazuzugehören. All dies war nun ohne jede Bedeutung und es schien uns das Beste zu sein, unsere Blicke direkt auf den Boden zu richten und ansonsten in Bewegungslosigkeit zu verharren. Doch anstatt uns gleich an Ort und Stelle zu verurteilen, befahl man uns, das Haus nicht zu verlassen, bis man uns wieder in dieses Zimmer rufen würde. Betreten blickten wir uns an, drehten uns langsam um und gingen aus der Türe. Wir waren ratlos und beschlossen, uns in eines der Dachzimmer zu verziehen, die wir auch sonst gerne für unsere geheimen Besprechungen nutzten.
Da saßen wir nun, ertappt, allein und ohne Hoffnung auf Vergebung. Bestimmt hatte man schon unsere Eltern benachrichtigt und so das eigentliche Übel über uns gebracht, denn es war mir klar, dass sich bereits zu dieser Stunde die apokalyptischen Reiter in Bewegung setzten, um den Antichristen mit aller Satanie aus dem Zögling zu vertreiben und dabei vor keiner Grausamkeit zurückzuschrecken. Allein die Vorstellung, meiner Mutter in wenigen Stunden bereits gegenüberzustehen und ihr in die Augen zu sehen, war für mich kaum zu ertragen und ich konnte unschwer feststellen, dass es meinem Körper nicht anders erging. Ich setzte mich an eines der kleinen hölzernen Dachfenster und blickte verloren auf den Hof des Martinihauses. Alles war jetzt zu Ende und musste vor allem zu einem Ende gebracht werden. Dies würde nicht ohne Schmerzen und Opfer gehen. Wir beschlossen daher, wie man das unter Verurteilten wohl so tut, dass wir uns nicht auch noch gegenseitig das Leben schwer machen wollten und lieber die Schuld gemeinsam tragen würden. Diese letzte Verbrüderung tat spürbar gut, auch wenn sie das Gefühl, dem Schicksal ganz alleine ausgeliefert zu sein, nur kurzfristig vertreiben konnte.
Nach einiger Zeit rief man uns dann einzeln in das Büro des Präfekten zurück und jedem wurde mit einfachen Worten mitgeteilt, dass er fristlos aus dem Martinihaus entlassen war. Inzwischen hatte sich diese Affäre auch unter den anderen Zöglingen herumgesprochen und man blickte nun mit tiefer Verachtung auf uns herab. Nachdem ich das Urteil still entgegen genommen hatte, verschwand ich so schnell wie möglich wieder in eines der Dachzimmer, um den erniedrigenden Blicken zu entgehen und mich mit meiner inneren Stimme zu beraten, die mich zum Glück nicht auch noch verlassen hatte. Gott und Satan waren verstummt und keiner von beiden schien noch eine Meinung zu den Vorgängen zu haben, in die sie mich so nachhaltig gedrängt hatten. Aber sie schickten mir dafür meine Mutter, die hier am nächsten Morgen eintreffen würde und, als wäre das nicht schon Strafe genug, wartete auch der Familienrat bereits auf mich, um in dieser Sache das letzte Wort zu sprechen. Ich würde für immer in Schande leben, ein Aussätziger und das schwarze Schaf der Familie sein. Man würde mich für immer an das erinnern, was hier im Martinihaus geschah und ich wusste, wie schmerzhaft diese Verachtung sein würde. Ich hatte die Berechtigung verloren hier zu sein, zu existieren und ich war es nicht mehr wert, ein Teil der Familie zu sein. Für einen Moment begann ich meinen Vater zu verstehen und ich hoffte inständig, dass er am nächsten Morgen anstatt meiner Mutter hier ins Martinihaus kommen würde, um mich in seine Arme zu nehmen.
Ich musste Stunden an diesem Dachfenster gesessen haben und immer wieder kam mir der Gedanke, dass ein kleiner Sprung alle meine Probleme lösen würde und ich endlich wieder an meinen See zurückkehren dürfte. Doch ich sprang nicht, denn noch hielt mich etwas zurück und wenn es auch nur die quälenden Gedanken an meine Zukunft waren. Inzwischen war es Nacht geworden und die Geräusche im Haus verstummten mehr und mehr. Auch in den Gängen war es ruhig geworden und es schien, als ob ich nun alleine in diesem Haus war, das mich nicht mehr haben wollte. Es war meine letzte Nacht und an Schlaf war nicht zu denken. Ich stand langsam von meinem Platz am Dachfenster auf und hörte an der Türe, ob sich doch noch jemand auf dem Gang befand. Es war ruhig und es zog mich nach unten auf den Hof. Die alten Holztreppen fügten zu jedem meiner Schritte ein schwaches Stöhnen, als ob sie mich auf meinem letzten Weg begleiten wollten. Unten war es dunkel und der Hof wurde zu dieser Stunde nur noch von ein paar Neonlampen beleuchtet. Ich setzte mich auf eine Bank und dachte an die Nachmittage, wenn hier Fußball gespielt wurde. Wie konnte ich nur in eine solche Situation geraten?
Aber nun war nicht die Zeit, sich über die Gründe den Kopf zu zerbrechen, denn das Urteil stand fest und was mich nun erwartete, war das Werk des Teufels. Genau so musste es gewesen sein und Gott verstummte auch jetzt und nahm dieses Mal auch den reuigen Sünder nicht liebevoll in seine Arme auf. Es gab nur noch mich und meinen See, von dem sie mich hierher geholt hatten. Ich spürte, wie dieses Heimweh in mir immer stärker wurde, und sah mich schon über die Wiesen am Ufer des Sees spazieren. Noch hatte ich Zeit bis zum nächsten Morgen. Ich konnte allem entfliehen und der drohenden Pein und Erniedrigung entgehen. Ich stand plötzlich auf und blickte suchend um mich, doch nichts fand meine Aufmerksamkeit. Ohne zu wissen, wonach ich eigentlich suchte, lief ich hektisch um den Hof und öffnete eine der Türen, die in einen Abstellraum führte, der sonst nur vom Hauspersonal genutzt wurde. Ich griff nach einigen der dort abgestellten Plastikflaschen und überflog mit schnellem Blick die Etiketten, bis ich mich für ein starkes Putzmittel entschied. Dieses nahm ich mit mir zurück auf meine Bank und dort saßen wir dann. Meine Gedanken beruhigten sich und zum ersten Mal seit vielen Stunden, konnte ich eine angenehme Wärme in mir spüren. Ich öffnete die Flasche und nahm einen herzhaften Schluck dieses übel riechenden Saftes in den Mund, zögerte noch einen Moment und schluckte dieses Gift dann entschlossen hinunter. Es war vollbracht und der Trank würde nun den Rest für mich erledigen, mich über die Brücke tragen und diesem Elend ein für alle Mal ein Ende bereiten. Doch nur wenige Momente später verkrampfte sich mein Magen derart, dass ich unter heftigen Schmerzen das Meiste gleich wieder ausspuckte und röchelnd auf dem Boden lag. Alles in mir brannte und ich lief hastig in die nächste Toilette, um die Schmerzen mit einem kräftigen Schluck Wasser zu lindern. Da lag ich nun zwischen Pissoirs und Toiletten auf dem kalten Boden, den Geschmack von Erbrochenem in Nase und Mund und ohne Hoffnung, dem nahenden Morgen zu entgehen, der nur noch wenige Stunden entfernt war.
Ich hatte schon früh gepackt, da mir der Rest der Nacht ohnehin keinen Schlaf mehr brachte und mich überdies mein Hals und Magen noch immer an die vergangene Nacht erinnerten. Ich hatte den Schlafsaal gleich verlassen, nachdem ich meine wenigen Habseligkeiten im Koffer verstaut hatte, und suchte mir dann sofort einen ruhigen Platz, an dem ich auf meine Mutter warten konnte, die bereits auf dem Weg ins Martinihaus war. In mir war nun alles leer und kaum ein Gedanke konnte meine Aufmerksamkeit für mehr als einen kurzen Moment auf sich ziehen. Ich war entschlossen einfach alles über mich ergehen zu lassen und mich allem zu fügen, was man über mich bestimmen würde. Auch wenn mein Versuch der letzten Nacht nicht zum Erfolg geführt hatte, war ich dem Ausgang doch nähergekommen als je zuvor und ich wusste nun, dass ich vieles ertragen konnte, solange mir der Weg an meinen See offenstand. Also würde ich den Zorn der Familie auf mich nehmen und später entscheiden, ob und wie ich mein Leben weiter führen wollte. Dies lag in diesem Moment nicht mehr in meiner Hand, denn ich konnte nicht erwarten, dass nach diesen Vorfällen noch irgendjemand nach meinen Wünschen fragen würde. Aber ich hoffte, dass sich dieser Zorn, der mich ohne Zweifel schon bald erreichen würde, genauso schnell wieder verziehen konnte, wenn ich keinerlei Widerstand leistete. Da sich bislang nie jemand die Mühe machte, nach dem zu fragen, was ich wirklich dachte, würde diese äußere Büßerhaltung sicherlich ihren Zweck erfüllen und mir vielleicht so viel Ruhe geben, dass ich die Zeit überstehen konnte, bis die ganze Sache schließlich in Vergessenheit geraten war. Doch nun musste ich zunächst abwarten, welche Strafe man für mich vorgesehen hatte und vor allem, wohin man mich nun schicken würde. In meiner alten Schule konnte ich sicherlich leicht erklären, dass man in einem bischöflichen Internat schließlich nicht leben konnte. Es war aber auch möglich, dass man mich an einen ganz anderen Ort oder in ein Heim schicken würde. Alles Nachdenken machte keinen Sinn und so verstummten selbst diese Gedanken in mir.
Als ich den gelben Opel Kadett meiner Mutter in den Hof fahren sah, war ich auf eine seltsame Art beruhigt, denn nun hatte das Warten ein Ende gefunden und bald würde ich die Antworten auf alle meine Fragen bekommen. Die Mutter stieg mit ernstem Blick aus dem Auto und befahl mir, hier auf sie zu warten. Dann verschwand sie im Haus und eilte wohl in das Zimmer des Präfekten. Dort mussten sie viel zu besprechen haben, denn es dauerte fast eine Ewigkeit, bis die Mutter wieder zurückkam. Wir redeten kein Wort miteinander und sie deutete mir nur an ins Auto zu steigen, was ich ebenso wortlos tat. Auf der ganzen Fahrt sprach sie kein Wort und ich dachte mir, dass es ihr bestimmt auf der Zunge brennen musste. Dann wiederum bewunderte ich ihre Kraft, sich so zu beherrschen, da ich ihrem Gesicht entnehmen konnte, dass sie am liebsten laut gebrüllt hätte. Aber auch das hätte keinen Unterschied gemacht, da ich ihre Gedanken bereits kannte und so seltsam diese Ruhe auch war, so angenehm war sie für mich.
In Geislingen angekommen fuhren wir jedoch nicht, wie von mir erwartet, ins Katzenloch, sondern direkt weiter nach Amstetten. Der Familienrat hatte sich bereits versammelt und wartete auf das Eintreffen des Sünders. Ich betrat das Haus mit deutlich gesenktem Blick und setzte mich so unauffällig wie möglich in eine entfernte Ecke des Wohnzimmers. Ich spürte die tiefe Verachtung aus den Blicken, die mich immer wieder trafen, doch zu meiner Verwunderung sprach auch jetzt niemand mit mir. Dafür wurde aber umso mehr über mich geredet und ich fragte mich, ob irgendeiner der Anwesenden überhaupt noch von mir Kenntnis nahm. Es war erniedrigend diesen Gesprächen zu folgen und zu hören, welche Meinung diese Menschen über mich hatten, mit welchen hässlichen Worten sie mich belegten und welcher Hass mir da entgegen kam. Schließlich war dies meine Familie, die sich da wie eine Horde wilder Wölfe über mich stürzte. Nur mein Großvater setzte sich neben mich und legte seine Hand ganz ruhig auf die meine. Sicherlich war er sehr von mir enttäuscht, aber ich wusste, dass er mich zu sehr liebte, um mir dies zu sagen. Er war immer für mich da und so auch an diesem Tage, an dem ich es am nötigsten hatte. Ich schämte mich nun, dass ich ihm das angetan und sein Vertrauen in mich so grundlegend enttäuscht hatte.
Mit der Zeit wurde es ruhiger und nur gelegentlich warf man mir noch böse Worte entgegen. Es gab nichts mehr zu sagen und alle Gemeinheiten hatten ihren Weg zu mir gefunden. Ich saß noch immer wortlos auf meinem Stuhl und wartete auf das Urteil, das nun über mich gefällt werden musste, doch zu meiner Überraschung gab es keine Entscheidung. Stattdessen saßen alle ganz erschöpft auf ihren Stühlen und starrten in eine Ecke des Raumes oder sahen verloren aus dem Fenster. Was sollte nun aus mir werden? Es war mir bereits klar geworden, dass ich Abschaum war und diese Familie nicht verdiente, doch lag mein Koffer noch immer im Auto und ganz offensichtlich gab es auch keinen Plan, mich zurück ins Katzenloch zu bringen. Die Sprachlosigkeit des Momentes wurde erst zerstört, als das Telefon klingelte und meine Mutter das Gespräch entgegen nahm. Außer mir schien jeder zu wissen, was dieser Anruf zu bedeuten hatte, denn die Spannung in den Gesichtern war kaum zu übersehen. Meine Mutter beendete das Gespräch und kam mit einem zufriedenen Lächeln zurück ins Wohnzimmer, wo sie dann den anderen mit gesenkter Stimme erklärte, was es mit diesem Telefonat auf sich hatte. Man dankte Gott und allen Heiligen und plötzlich löste sich die ganze Versammlung einfach auf. Ohne mir weitere Details zu erklären, deutete mir die Mutter an, dass ich kommen sollte und im Hintergrund rief mir meine Großmutter noch zu, dass dies meine letzte Chance sei. Man hatte also eine Lösung gefunden und ich vermutete, dass ich schon bald erfahren würde, wo genau man mich nun abladen würde.
Erst im Auto begann die Mutter zu mir zu sprechen und erklärte, dass der Präfekt des Martinihauses für mich einen Platz in einem anderen Internat gefunden hatte und ich noch an diesem Tage dort einziehen sollte. Er hatte mich wohl nur als Mitläufer gesehen und irgendetwas musste sein Mitleid geweckt haben, da ein solcher Schritt ausgesprochen unüblich war. In der Tat musste mein Wechsel in das Studienheim „Regina Pacis“ in Leutkirch auch streng geheim bleiben, da meinen beiden Freunden eine solche Gnade nicht zuteilwurde und man nicht den Eindruck erwecken wollte, dass die katholische Kirche in ihren Häusern Diebe aufnimmt und sogar noch begnadigt. Viel mehr erfuhr ich nicht und so begnügte ich mich mit dem Betrachten der Landschaft und einer inneren Freude, dass ich nun doch nicht weiter im Kreise der Familie leben musste. Auch kam es mir sehr gelegen, dass der ganze Vorfall geheim zu halten war. Als wir in Leutkirch ankamen, war es schon reichlich spät und das Internat war beängstigend ruhig, als wir durch die Eingangstüre traten. Die Halle war sehr dunkel und wurde nur durch ein schwaches Licht erhellt, das aus einer halb offenen Türe fiel. Es war das Büro des Präfekten, der dort noch auf uns wartete. Wir gingen auf die Türe zu, klopften und traten ein. Sein Name war Werner Redies. Er war ein hagerer Mann und man hatte fast den Eindruck, dass er krank und schwach sein musste. Dies konnte jedoch auch ein falscher Eindruck gewesen sein, denn, wie alle Priester, trug auch er nur schwarze Kleider und seine weiße Haut setzte sich zu dieser Stunde stark von allem Dunklen ab, das diesen Raum ansonsten erfüllte. Er stand sofort von seinem Schreibtisch auf und begrüßte uns mit einem freundlichen und warmen Lächeln. Bevor wir uns setzen konnten, bat er meine Mutter, zunächst das Zimmer zu verlassen, da er sich mit mir alleine unterhalten wollte. Einen Menschen, der nur mit mir reden wollte, hatte ich hier nicht erwartet, nicht an diesem Tage und nicht nach allem, was gerade passiert war.
Ich muss gestehen, dass mich dieser Mann vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen hatte. Er vermied es tunlichst von den Ereignissen im Martinihaus zu sprechen und nannte es nur „diese Sache“, über welche er nach diesem Tage nicht mehr sprechen wollte. Er verstand es vorzüglich in einer Sprache zu reden, die mir zugänglich war und deren Bedeutung und Eindringlichkeit nicht nur mein Verständnis, sondern meinen freien Willen fanden, allem zu folgen, was er für mich ausgedacht hatte. Es ging nur um mich und alle Regeln, die er zur Voraussetzung machte, erschienen mir vor diesem Hintergrund mehr als einleuchtend. Ich empfand es sogar als beruhigend, dass ich mich fortan jeden Freitag bei ihm melden musste, um Bericht zu erstatten über alles was ich tat und vor allem, wer meine neuen Freunde waren. Er wollte sich um mich kümmern und dafür Sorge tragen, dass ich nicht wieder auf Abwege geraten würde.
Auch meine Mutter musste noch einigen Regeln zustimmen, bevor er sich bereit erklären wollte, mich in seinem Hause aufzunehmen. So musste sie mir noch an diesem Abend verzeihen und ihm versprechen, diese Sache nicht wieder zum Leben zu erwecken. Er war ein faszinierender Mensch und ich musste daran denken, dass Gott nun doch noch zu mir sprach und mir eine Türe öffnete, die ich selbst in meinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hatte. Wir hatten unseren Geheimpakt geschlossen und damit war diese Sache für ihn zunächst erledigt. Nachdem er uns nochmals tief in die Augen schaute, klopfte er mir leicht auf die Schulter und überließ mich dann einem Erzieher, der mich in meinen Schlafsaal bringen sollte. Meine Habseligkeiten fanden nun ihren Weg in einen neuen Schrank und die Mutter bezog noch schnell mein neues Bett. Sie hatte Tränen in den Augen und ich wusste, dass auch ihr eine große Sorge genommen wurde. Wir sprachen nicht viel und der Erzieher deutete ihr an, dass es nun an der Zeit war, ihren Zögling den Dingen zu überlassen, die hier auf ihn warteten. Ich sah meiner Mutter noch kurz nach, wie sie den langen Gang entlang lief, und öffnete dann vorsichtig die Türe meines neuen Schlafsaals. Das eindringende Licht des Ganges sorgte für eine kurze Unruhe, die jedoch gleich wieder von tiefen Schlafgeräuschen abgelöst wurde. Ich legte mich in mein Bett und blickte verloren aus dem Fenster. Noch letzte Nacht war alles zu Ende, hoffnungslos und voller Schmerzen, doch nun fühlte sich mein Leben wieder wie die frischen Bettlaken an, neu bezogen und voller Hoffnung.
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Mein Schlafsaal lag genau in der Mitte des Korridors, gleich gegenüber dem Waschsaal, am Fuße einer kleinen Treppe und war daher höher als die anderen Räume. Auch das eher klein gehaltene Fenster trug auf seine Weise zu dem Eindruck bei, dass man sich hier in einer Höhle befand. Aber es war nicht bedrückend und so lag ich regungslos auf dem Rücken und starrte aus diesem Fenster, das mir gerade genug von der Welt zeigte, um mich in dem klaren Nachthimmel zu verlieren. Ich fragte mich, ob manche Tage einfach anders waren und die Welt davon nur keine Notiz zu nehmen schien, oder ob es da andere Kräfte gab, die sich in den letzten Tagen so eindringlich auf mich konzentrierten. Doch die Dämonen waren nun verschwunden und ich konnte nur noch ihre kühlen Schatten spüren, die sich langsam durch dieses Fenster in die Nacht begaben, die dort draußen stahlblau über der Welt lag. Ich fühlte mich rein und losgelöst von den Ereignissen, die mir jetzt in dieser Nacht bereits entschwanden und mir doch als stille Begleiter für den Rest meines Lebens zur Seite stehen sollten.
Doch diese Nacht war mehr als nur Besinnung, denn hinter all den Gedanken, die mir jetzt so unablässig durch den Kopf gingen, fühlte ich eine Kraft in mir wachsen, deren eigentlicher Ursprung mir damals zwar noch verborgen blieb, deren Wirkung jedoch so stark war, dass ich sie in jedem Teil meines jungen Körpers fühlen konnte. Es war dieselbe Kraft, die mich einst über den See in dieses Leben brachte, und die mich sehr behutsam, aber unnachgiebig vom Ganzen trennte und mich Teil werden ließ. Meine Augen klammerten sich fest an das Fenster und erlaubten meinem Blick so weit in die unendliche Nacht zu schweifen, bis ich die Balance zwischen mir, der ich noch immer regungslos in diesem Bett lag und mir, der ich durch die unendlichen Weiten des Alls wanderte, gänzlich verlor und mich alsbald im freien Fall befand, der erst dann zu enden schien, als ich ganz langsam in eine gläserne Kugel sank, die wie das Nichts inmitten allen Seins schwebte und doch das Ganze in sich trug. Ich spürte den kühlen Wind, der in dieser Nacht ganz zart über die Blätter der Bäume zog, war gleichzeitig Blatt und Wind, wurde Stein und Fluss und konnte sein, wohin mich meine Gedanken auch trugen. Das Licht erzeugte Schatten, die dem Licht das Leben gaben, und nun im Nichts die Formen schufen, die selbst nie waren und nur erschienen, wo Licht und Schatten den Gedanken folgten, die sich der Teil im Nichts geschaffen hatte, um selbst der Pein des Ewigen zu entgehen. Ich ließ mich in diesem Augenblick tiefer Harmonie dahingleiten, sah mich als Kind und alten Mann, wie Licht und Schatten über Formen schweben, die selbst nur Licht und Schatten waren.
Ein heftiges Husten und das unmittelbar folgende Geräusch eines der Metallbetten, brachte mich plötzlich wieder in den Schlafsaal zurück und ich wunderte mich, ob jemand inzwischen meine Anwesenheit bemerkt hatte. Doch schon bald war alles wieder ruhig und ich war wieder mir selbst überlassen. Am Morgen würden sie mich dann sehen, einen Geist, der sich über Nacht in dieses leere Bett schlich und den keiner zuvor je gesehen hatte. Ich muss gestehen, dass mich dieser Gedanke doch sehr irritierte, denn ich kannte ja weder das Haus, noch wusste ich, wie und in welche Schule ich kommen würde und vor allem hatte ich noch keine Ahnung, wie ich mein nächtliches Erscheinen in diesem Hause erklären sollte. Es war jetzt Zeit zu schlafen, denn der nächste Tag würde all meine Kraft in Anspruch nehmen, um diese erste Herausforderung erfolgreich zu bestehen.
Ich musste die verbliebenen Stunden sehr tief geschlafen haben, denn als der Weckdienst in aller Frühe die Türe öffnete und in einer eher unsensiblen Art alle Lichter anmachte, fand ich kaum die Kraft, meine Augen zu öffnen und den Schlaf zu überwinden. Da lag ich nun mit halb geöffneten Augen in meinem wohlig warmen Bett und starrte auf die weiße Decke des Schlafsaals, als sich plötzlich ein sichtlich erstauntes Gesicht dazwischen schob und mich mit großen Augen anblickte. Doch schon mit meiner ersten Bewegung wich der Neugierige einen Schritt zurück und meldete den Fund mit aufgeregter Stimme zurück an die Anderen, die sich nun so langsam in ihren Betten zu bewegen begannen. Manche hoben nur leicht den Kopf und fielen auch gleich wieder zurück in ihre Kissen, doch dauerte es nicht lange, bis sich schließlich alle Augen gespannt auf mich richteten. Ich wagte nicht aus meinem Bett aufzustehen und versuchte mich im Schutze meiner Bettdecke zu verstecken und die neugierigen Blicke mit einem leichten Grinsen zu beantworten. Es waren freundliche Gesichter und schon bald kam auch der Neugierige zurück, gab mir seine Hand und fragte mich, was ich denn nun in diesem Bett machte. Inzwischen hatte ich auch die Aufmerksamkeit der notorischen Langschläfer gefunden und sah mich all den fragenden Blicken gegenüber, die sich um mein Bett versammelt hatten. Ich begann zu erklären, dass es für mich aus familiären Gründen notwendig geworden war, in ein Internat zu gehen, da meine Eltern geschieden waren und man mir dennoch eine gute und vor allem christliche Erziehung angedeihen lassen wollte. Da all dies eine plötzliche Entscheidung gewesen war, ließ es sich eben nicht vermeiden, dass ich dann erst zu später Nachtstunde hier eingetroffen war und nun in diesem Bett lag. Dies schien mir die noch ehrlichste Variante der wahren Gegebenheiten zu sein, und wie es aussah, klang dies auch für alle Anwesenden einleuchtend und verständlich.
Die Belagerung vor meinem Bett löste sich langsam auf und mein plötzliches Erscheinen wurde nun in den vielen kleinen Gesprächen diskutiert, die sich im Schlafsaal entwickelten, während einer nach dem anderen den Raum verließ. Ich jedoch saß aufgeregt und nervös auf meiner Bettkante und hatte Angst mich den anderen anzuschließen. Schließlich ging ich langsam zur Türe und blickte doch neugierig in den Gang, wo sich bereits unzählige Kinder in Richtung des Waschsaals bewegten. Ich verharrte regungslos an der Türe und sah diesem lebhaften Treiben gespannt zu, als mich plötzlich jemand beim Arm nahm und mit sich auf den Gang zog. Es war der Neugierige, der mir auch gleich ein Waschbecken zuwies und den Kindern, die in unserer Nähe standen, ohne Umschweife erklärte, was es mit mir so auf sich hatte.
Der Waschsaal kam mir unendlich lange vor und auf engstem Raum waren da all diese weißen Waschbecken aneinandergereiht, vor denen unzählige Kinder mit ihren Zahnbürsten, Kämmen und Wasserbechern standen. Dazwischen sah ich immer wieder einen der Erzieher herumlaufen und zu meinem großen Erstaunen schienen sie uns nicht zu kontrollieren, sondern führten kurze Gespräche, sorgten für einiges Lachen und fragten uns, ob es in der Schule oder hier im Hause Probleme gab, bei denen man uns vielleicht helfen konnte. Ich blickte in den Spiegel und sah mir tief in die Augen. Dabei kam mir mein nächtlicher Ausflug wieder in den Sinn und ich begann, mich spürbar wohlzufühlen.
Doch bevor ich dem Gedanken weiter folgen konnte, verstummten um mich herum alle Stimmen und Geräusche. Es war totenstill. Vorsichtig blickte ich über meine Schulter und sah, dass sich niemand mehr bewegte und stattdessen alle stramm an ihren Waschbecken standen, als plötzlich der Präfekt den Waschsaal betrat und von allen mit einem lauten „Guten Morgen, Herr Redies“ begrüßt wurde. Ich muss an dieser Stelle zugestehen, dass mich dieser Vorgang zunächst ausgesprochen irritierte und in keiner Weise zu dem Bild passte, das ich mir am vergangenen Abend noch von dem Präfekten gemacht hatte, doch meine Zweifel lösten sich schon bald wieder von selbst auf, als der Präfekt in geradezu freundschaftlicher Manier dem einen oder anderen auf die nackte Schulter klopfte, lächelnd durch den Waschsaal schlenderte und dabei so manche Anekdote zum Besten gab, was allgemein zu heftigem Lachen führte. Es war nicht schwer zu erkennen, dass dieser Mann auf unserer Seite stand und, was mich zunächst so sehr irritierte, war am Ende Respekt, tiefer Respekt, der dem Präfekten hier von allen Kindern entgegen gebracht wurde. Sein Weg durch den Waschsaal führte ihn schließlich auch zu mir. Er blickte mir für einen Moment in die Augen, nickte leicht mit dem Kopf, während er kurz seine Augen schloss, und legte seine Hand auf meine Schulter, bevor er mich den anderen vorstellte und alle darum bat, mir zu helfen und mich in den Betrieb des Hauses einzuführen. Danach verschwand er wieder in den Gang und der Lärm kehrte zögerlich in den Waschsaal zurück.
Nun war es soweit. Ich musste mich auf den Tag vorbereiten, der voll mit allen möglichen Ungewissheiten war und dies konnte nur mit den richtigen Kleidern geschehen, die mich vor all den drohenden Gefahren beschützen würden oder mir doch zumindest ein so behagliches Gefühl gaben, dass mir diese Welt heute nichts anhaben konnte. Jedem Zögling war draußen auf dem Gang ein Schrank zugewiesen und dort durchsuchte ich nun all meine Habseligkeiten, die meine Mutter am Abend zuvor noch sorgsam in meinem Schrank verstaut hatte. Ich wusste nicht, nach was ich eigentlich genau suchte und drehte und wendete jedes Stück in meinem Schrank herum, bis ich die Stimmen und den Lärm am Gang nicht mehr hören konnte. Lautlos zogen die anderen nun wie gespenstische Schatten an mir vorbei und ich bemühte mich, meine Gedanken auf ein Hemd oder eine Hose zu richten. Das war ausgesprochen schwer, denn ich spürte jetzt die Glaskugel wieder und konnte weder dem Treiben um mich herum, noch meinem Hiersein einen Grund abgewinnen. Ich hatte Heimweh und es schmerzte mich so sehr, dass ich jetzt nicht einfach durch diesen Schrank gehen konnte, um auf der anderen Seite an meinem geliebten See über die Wiesen zu laufen. Ich entschied mich schließlich für ein altes Bauernhemd, das mir in derartigen Situationen schon oft hilfreich zur Seite stand, griff ganz schnell nach meinen verwaschenen Jeans und sah mich dann noch einmal kritisch im Spiegel an. Nun war Mut gefragt, denn der Waschsaal war natürlich keineswegs mit dem Speisesaal zu vergleichen, in dem sich zu dieser Stunde bereits alle Bewohner des Hauses versammelten. Ich trat mit einem großen Schritt aus meiner Glaskugel heraus und reihte mich in den Strom der Hungrigen ein, die zweifellos alle in Richtung Speisesaal marschierten. Ich sah mich neugierig um, als ich den Gang entlang lief, an dessen Ende eine große Sitzgruppe aus derbem Leder stand. Vielleicht traf man sich dort in der Freizeit mit Freunden, wenn es einem nicht nach Fußball zumute war. Vor der Sitzgruppe zweigte der Gang scharf nach links ab. Nun erst sah ich, wie groß dieses Haus sein musste, denn dieser Gang war noch um ein Vielfaches länger als auf meiner Seite. Gleich rechts befand sich eine große Treppe, die uns nach unten führte, wo ich auch den Speisesaal vermutete. Die Treppe brachte uns zunächst in die Eingangshalle, wo ich das Zimmer des Präfekten sofort wieder erkannte. Daneben gab es noch etliche andere Zimmer, deren Türen jedoch alle verschlossen waren. Ich stand nun wie angewachsen in der Türe des Speisesaals und überlegte, ob es nicht viel besser wäre, diesen Tag nüchtern zu beginnen.
Der Speisesaal war hell und das Licht der Morgensonne spiegelte sich in den Metallkrügen und den unzähligen Tellern und Tassen wieder, die dort auf all den ordentlich angeordneten Tischen standen. Dazwischen fand sich die typisch aufgeregte Betriebsamkeit, die an manchen Tischen fast schon einem Chaos glich und letztlich nur die lebhafte Freude widerspiegelte, die hier zu Hause war. Ganz offensichtlich gab es auch keine festen Frühstückszeiten, denn jeder kam ganz, wie es ihm gefiel, und so gab es ein stetiges Kommen und Gehen, wie man das aus großen Kantinen kennt. Dennoch vermutete ich hinter all der Ungezwungenheit eine Ordnung, da man an jedem Tisch immer das gleiche Muster sehen konnte, eine ausgeglichene Mischung verschiedener Altersgruppen. Es war also nicht verwunderlich, dass den Jüngsten die Verantwortung zufiel, den Tisch mit ausreichend Nachschub zu versorgen, weshalb sich an dem Ausgabefenster zur Küche auch fast nur junge Buben drängten, während die Alten ungeduldig an ihren Tischen saßen und die Zuträger mit allerlei unflätigen Bemerkungen zur Eile antrieben. Nachdem ich das Geschehen für einige Zeit beobachtet hatte, entschied ich mich für einen Tisch, der mir verlassen erschien und an dem alle sechs Buben bereits ihr Frühstück zu sich genommen hatten. Zu meiner Freude stand der Tisch in ausreichender Entfernung vom Eingang und von den anderen Tischen, an denen es noch immer hektisch zuging. Von hier hatte ich einen guten Überblick über den ganzen Speisesaal und es waren auch noch genug Reste übrig geblieben, sodass ich mir ein redlich gutes Frühstück zusammenstellen konnte. Es war gut, endlich zu sitzen.
Der Speisesaal lag in dem Seitenflügel, genau unterhalb meines Schlafsaals und von hier aus konnte man sowohl den Rest des Gebäudes, aber auch die Außenanlagen sehen. Das Haus hatte die Form eines großen L’s und war von Bäumen und viel grünem Rasen umgeben. Direkt am Haus gab es einen kleinen Platz, der wohl für sportliche Aktivitäten vorgesehen und tiefer als die Umgebung gelegen war. Von hier aus konnte man über eine Treppe nach oben auf die Rasenfläche und zu den Bäumen gelangen. Besonders beeindruckend fand ich jedoch, dass gleich hinter den Bäumen ein riesengroßer Fußballplatz mit richtigen Toren und einer Abgrenzung aus Büschen war. Da es zwischen dem Haus und dem Fußballplatz keine weitere Abgrenzung gab und der Platz ansonsten nur von Feldern umgeben war, musste der Fußballplatz wohl zum Internat gehören. Dagegen erschien mir selbst unser Bolzplatz im Katzenloch als winzig klein. Fußball musste hier wohl eine sehr große Rolle spielen.
Der Speisesaal hatte sich inzwischen fast vollständig geleert und ich wäre hier sicherlich noch einige Zeit sitzen geblieben, aber schon bald sah ich den Präfekten in den Speisesaal kommen, um mich mit in die Schule zu nehmen, wo er mich noch in aller Form als einen seiner neuen Zöglinge vorstellen musste. Die Schule lag nicht weit vom Internat entfernt und eigentlich hätten wir den kurzen Weg auch zu Fuß gehen können, aber ich freute mich sehr, dass ich jetzt das Haus an der Seite des Präfekten verlassen durfte, um dann in seinem Peugeot in die Schule gefahren zu werden. Diese Sonderbehandlung, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war, gab mir doch die Kraft und die nötige Sicherheit, da es vor allem den anderen Kindern und auch den Lehrern zeigte, dass ich kein Sonderling war, der sich da heimlich mitten in der Nacht in ihr Leben geschlichen hatte. In der Schule angekommen gingen wir direkt ins Büro des Schulleiters. Das Gymnasium war eine öffentliche Schule und somit mussten wir hier erst vorsprechen, obwohl der Leiter natürlich von meinem plötzlichen Eintritt bereits Kenntnis hatte. Die offizielle Einführung in der Schule war daher schlicht und knapp. Der Präfekt stellte mich kurz vor, übergab noch einige Papiere und überließ mich dann der Lehrerin, an deren Unterricht ich nun auch gleich teilnehmen sollte.
Es ist schwer, das gesamte Ausmaß der Verzweiflung zu beschreiben, die mich in diesem Moment erfasste. Mit jedem Schritt, der mich dem Klassenzimmer näher brachte, schnürte sich meine Brust ein kleines Stück weiter zusammen, bis ich kaum noch ausreichend Luft zum Atmen hatte. Ich konnte nie mit Menschen umgehen und hatte immer genau dann versagt, wenn es um das sogenannte Zwischenmenschliche ging. Und nun sollte ausgerechnet ich, der ich schon Angst vor einer Umarmung hatte, so liebevoll sie auch gemeint sein mochte, vor einer ganzen Klasse stehen und mich in ein Gefüge drängen, das nicht für mich gemacht war und das mir nun notgedrungen einen Teil abgeben musste, einen Teil, in dem ich hier überleben konnte. Ich war inzwischen schon zehn Jahre auf dieser Welt, doch nun fragte ich mich, was mich auf diesen Tag hätte vorbereiten sollen, welche Fähigkeit ich verpasst hatte, die mich stolz in dieses Klassenzimmer hätte gehen lassen. Wo sonst hätte ich in diesem Moment auch hingehen sollen, wenn nicht in meine Glaskugel, in der ich sicher und unberührbar war?
Meine ganze Hoffnung konzentrierte sich jetzt darauf, dass diese nette Lehrerin nicht eine dieser Erscheinungen war, die ihr Schulwissen an wehrlosen Kindern ausprobierten und sich in falsch verstandener Anteilnahme in sich selbst verliebten. Ich betete zu Gott und allen Heiligen, dass sie mich nicht vor die Klasse stellen würde, um dann den pädagogisch wichtigen Aspekt der Integration zum Besten zu geben. Ich wollte mich einfach nur an einen Tisch setzen und der Unterricht würde dann ganz von selbst von mir ablenken. Den Blicken konnte ich ja leicht entgehen und Fragen würde es zumindest während des Unterrichts nicht geben. Wir waren am Klassenzimmer angekommen und die Lehrerin öffnete die Türe und deutete mir an nach innen zu kommen. Sie war eine gute Lehrerin, denn sie schaffte es ohne nennenswerte Schwierigkeiten ihre Einführung auf ein paar gut gemeinte Worte zu beschränken und ich nutzte auch gleich die sich mir damit gebotene Möglichkeit und setzte mich ganz schnell an einen leeren Tisch am anderen Ende des Klassenzimmers. Die anderen Schüler drehten sich nur kurz um und blickten mir prüfend nach und fast schien es so, als hätte sich die ganze Sache damit erledigt. Ich holte erst einmal tief Luft und griff dann in meinen Schulranzen, um mir mein Schreibgerät auf den Tisch zu holen. Ich begann gerade wieder ruhig durchzuatmen, als ich plötzlich meinen Namen hörte.
Langsam hob ich meinen Blick und da starrten mich wieder all die neugierigen Augen an. Die gute Frau Lehrerin konnte es anscheinend doch nicht lassen und fragte in ihrer Naivität die ganze Klasse, ob sich denn niemand zu mir setzen wollte. Natürlich wollte das niemand und die Peinlichkeit der Situation war kaum noch zu überbieten. Alle starrten mich an und ich versuchte, ohne Worte deutlich zu machen, dass diese seltsame Idee nicht von mir stammte. Zu meiner vollsten Überraschung ließ sie es aber nicht etwa dabei bewenden und wiederholte ihre Frage noch einmal. Ich wollte im Boden versinken, mich in Luft auflösen und nie wieder hierher zurück kommen. Die ganze Situation war auch ohne ihr Zutun schon schwer genug und meine Isolation bedurfte keiner weiteren Bloßstellung, um den Grad an Schmerz zu entwickeln, den ich jetzt empfand. Da saß ich nun alleine in der Ecke des Klassenzimmers und was sich jeder zuvor bereits selbst gedacht hatte, war nun in Marmor gemeißelt worden und würde die Jahrhunderte spielend überleben. Nein, niemand wollte sich zu mir setzen! Zum Glück gab sie nun endlich ihre missionarischen Ambitionen auf und begann mit dem Unterricht. Alle Blicke waren nach vorne gerichtet und nur ein blonder Kopf drehte sich mehrfach um und sah mich prüfend an. Ich erwiderte seinen Blick mit einem leichten Lächeln und einem schüchternen Achselzucken. Schließlich stand der Junge einfach mitten im Unterricht auf, packte seine Sachen ein, kam an meinen Tisch und setzte sich neben mich. „Hallo Thomas, ich bin der Konrad.“ Es waren einfache Worte, die all die Peinlichkeit zum Einsturz brachten und es waren die ersten Worte eines Jungen, der bis heute mein Freund geblieben ist.
Es gab viel zu erzählen und wir bemühten uns nach Kräften, dies so unauffällig wie möglich zu tun, um den Unterricht nicht zu stören, vor allem aber, um zu vermeiden, dass die Lehrerin uns zwei Störenfriede gleich wieder auseinandersetzen würde. So wie es aussah, hatte sie jedoch nur ein waches Auge über uns und ließ uns ansonsten gewähren, wohl in dem Gefühl, etwas besonders Gutes in die Wege geleitet zu haben. Wie ich in den kommenden Wochen und Monaten selbst erleben durfte, waren Klassen wie diese nicht unbedingt leicht zu unterrichten und man kann nur erahnen, was in den Lehrern von Zeit zu Zeit vor sich ging. Konrad und ich hatten so einiges gemeinsam und der fehlende Vater war sicher einer dieser Umstände, die zu unserem überraschend guten Verständnis beitrugen. Er hatte seinen Vater durch einen tragischen Unfall verloren und es war nicht schwer herauszufinden, dass er seinen Vater genauso vermisste, wie ich den meinen, auch wenn die äußeren Umstände doch sehr verschieden waren. Bei allen Gemeinsamkeiten, die unser damaliges Gespräch zutage gebracht hatte, ist mir noch heute rätselhaft, wie gut wir uns von Anfang an verstanden hatten, denn auch nach über vierzig Jahren, die unsere Freundschaft nun schon andauert, sind wir zwei Menschen geblieben, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Konrad hatte schon damals, nach dem Tod des Vaters, damit begonnen, den Vater im Betrieb des eigenen Hofs zu ersetzen und allerlei Tätigkeiten zu übernehmen, die mir selbst nicht nur fremd, sondern geradezu unvorstellbar erschienen. Für ihn war es ganz normal einen Traktor zu fahren, Bäume zu schneiden oder allerlei Dinge zu reparieren. Er war der älteste Sohn und somit hatte er schon früh auch die Verantwortung für seine jüngere Schwester und seinen Bruder übernommen. Es haftete ihm eine gewisse Leichtigkeit an, eine dieser Fähigkeiten, mit den mannigfaltigen Hindernissen des Lebens so umzugehen, dass sie einem außer Schrammen und Narben nichts anhaben konnten.
Er war eine der leuchtendsten Figuren dieser Klasse, ein sehr guter Schüler, beliebt und respektiert, ein sehr guter Sportler und ein ausgezeichneter Fußballspieler. Natürlich kam unser Gespräch auch schnell auf meine eigenen Fähigkeiten als Fußballer, wobei er wohl instinktiv davon ausging, dass ich auf diesem Gebiet überhaupt so etwas wie Fähigkeiten vorzuweisen hatte. Ich versuchte ihm daher vorsichtig zu erklären, dass ich natürlich schon einmal Fußball gespielt hatte, aber meine Kenntnisse nicht über einen gelegentlichen Kick auf unserem Bolzplatz hinaus gingen und selbst dabei sei ich keineswegs brillant gewesen. Er blickte mich erstaunt an und fragte mich, ob ich denn schon einmal im Tor gestanden hätte, was ich zögerlich bejahte. Damit war für ihn seltsamerweise klar, dass ich ein Torwart war und da man in der Klassenmannschaft dringend einen solchen Torwart suchte, war ich damit ein ernst zu nehmender Anwärter für diesen Posten. Er gab mir nun auf, den anderen Klassenkameraden genau dies zu sagen und mich nicht weiter zu sorgen, da er schon für den Rest sorgen wollte. Sichtlich erleichtert wechselte er das Thema und erzählte mir vom Leben hier in Leutkirch, von unserer Klasse und all den Dingen, die sich vor meiner Ankunft hier zugetragen hatten. Ich hörte ihm gespannt zu und war sehr froh, dass er nicht weiter nach meiner Vergangenheit fragte, da ich meinen neuen Freund nicht gleich am ersten Tag anlügen wollte.
Unser Gespräch wurde vom Ende des Unterrichts unterbrochen, von dem ich nicht ein einziges Wort mitbekommen hatte. Kaum war die Pausenglocke zu hören, sprangen die anderen von ihren Stühlen auf und versammelten sich geschlossen um unseren Tisch. Diesmal jedoch war ich nicht der Sonderling, nicht der Außenstehende, sondern saß hier stolz an diesem Tisch, genau im Mittelpunkt des Interesses. Mit einem Mal wunderte sich niemand mehr, wie und woher ich über Nacht nach Leutkirch gekommen war, denn nun saß Konrad neben mir und dieser Umstand erregte bei den meisten wohl mehr Verwirrung als die Umstände meines plötzlichen Erscheinens. Während ich unzählige Hände schüttelte, begann Konrad bereits mit den Vorbereitungen meiner neuen Rolle als Torwart der Klassenmannschaft. Vielen war die Pause dann auch gleich viel zu kurz und sie setzten sich beim Erscheinen des nächsten Lehrers nur widerwillig an ihre Tische zurück, jedoch nicht, ohne mit mir noch schnell zu vereinbaren, dass wir uns gleich in der nächsten Pause wieder treffen würden.
Die folgenden Tage vergingen wie im Flug und ich fand kaum die Zeit, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten, weshalb ich sie für diesen Moment erst einmal wie wertvolle Schätze in mir vergrub, denn vergessen wollte ich sie keineswegs. Es war eine ganz neue und vor allem so völlig andersgeartete Welt, die sich mir da offenbarte. In den ersten Tagen gab es allerlei für mich zu tun und ich begann natürlich zuerst mit den Dingen, die für mein Hiersein von praktischer Bedeutung waren. Zunächst richtete ich mein Studierpult ein, das mir in einem der Studiersäle zugewiesen wurde. Die meisten pflegten ihr Pult wie einen ganz persönlichen Schrein, in dem man Bilder und Fotografien aufhängte, Maskottchen in die Ecke setzte und allerlei andere wichtige Utensilien aufbewahrte, um seiner jungen Persönlichkeit den nötigen Ausdruck und die Einmaligkeit zu verleihen, die man sich selbst wünschte. Wenn man in einem solchen Haus wohnt und lebt, dann fühlt man sehr schnell den Wunsch nach dem eigenen Platz, eine kleine Ecke, die nur einem selbst gehört, da man ansonsten von der Toilette bis zum Essen so ziemlich alles mit anderen Menschen teilen muss. Neben dem eigenen Bett gab es eben nur das Studierpult, das einem persönlich gehörte und somit waren beide Orte der Platz, an den man sich zurückzog, wenn man einmal für sich alleine sein wollte. Natürlich war beides zuvor schon von Generationen anderer Zöglinge benutzt worden und selbst an diesen Orten war man nie gänzlich alleine, da der Raum, in dem Bett und Pult standen, alles andere als geheime Zufluchtsorte waren. Und doch gab es dort diese so nötige Privatsphäre, dies zumindest für diejenigen, die es verstanden, sich für eine gewisse Zeit von der Welt zu verabschieden und sich in ihrem Pult zu verkriechen.
Dieses Studienheim war eine wahre Fundgrube für alle möglichen Überraschungen und ich hatte meine liebe Mühe, all die neuen Dinge, die nun an mich herangetragen wurden, in dieser kurzen Zeit zu erfassen. So entschied ich mich nach kläglichen Versuchen mit der Violine, dann doch für die Klarinette als Musikinstrument, was mir nach einiger Zeit dann auch einen Platz in der hauseigenen Bläsergruppe einbrachte. Daneben begann ich mit der Holzinnung. Jedes Schulhalbjahr musste man immer eine andere Innung wählen und sich mit allerlei handwerklichen Tätigkeiten, wie Holzarbeiten, Flechten oder gar Kochen beschäftigen. Dies war wohl als eine Art praktischer Ausgleich für all die sonstigen geistigen und körperlichen Tätigkeiten gedacht und vielleicht auch, um uns die Beziehung zum normalen Leben zu erhalten. Aber anscheinend hatte man in diesem Haus ohnehin der Langeweile den Kampf angesagt, denn neben Schule, Innung und Musik, gab es natürlich noch die regelmäßigen Gottesdienste, Meditationen, Gesprächskreise, aber auch die verschiedensten Theatergruppen und natürlich Sport in allen möglichen Formen.
Diese Tage waren zutiefst anstrengend und so sehr mich all die neuen Eindrücke auch erfüllten, so sehr zehrten sie an meiner Kraft. Hungrig, ja geradezu gierig, griff ich nach allem, was sich mir bot, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, wie ich mit all dem fertig werden sollte, wie ich durchleben sollte, was ich nun begann und vor allem, wie ich überleben sollte, wenn die Macht des Neuen schwinden und ich mich wieder einsam und allein in mir selbst finden würde. Auch wenn die Tage seit meiner Ankunft mir diesbezüglich keinerlei Anlass zur Sorge gegeben hatten, so sprach doch die Erfahrung in manchen Nächten mit leiser Stimme zu mir und erinnerte mich eindringlich daran, dass sich das Schicksal nicht betrügen lässt. Manchmal, wenn ich nachts aus meinem Fenster im Schlafsaal blickte und die Bilder des Tages nachzeichnete, mischten sich die Wabenhäuser wie Gespenster dazwischen und die grünen Wiesen und Felder des Allgäus gingen langsam in ein Bild über, das grau und kalt die Konturen meiner Jugend skizzierte und mich zurück ins Katzenloch versetzte. Nein, ich wollte nicht mehr in dieses Katzenloch zurück, nicht mehr in die Enge und Abgeschlossenheit meiner Familie, die mich für so viele Jahre beängstigt hatte. Ich wollte unter Menschen sein, Freunde haben und Anteil nehmen an den Gedanken und Ideen, die hier in allen Räumen so mannigfaltig zu Hause waren.
Schon in den ersten Tagen empfand ich das Leben in diesem Heim als Befreiung und ich begann nach all den Jahren endlich wieder tief durchzuatmen, mich zu freuen und mutig aus meiner Glaskugel herauszusteigen. Doch die strengen Augen meiner Mutter blickten mir noch immer unablässig über die Schultern, mahnten mich und ließen den Gedanken nie schwinden, dass sie all diese Freude mit einem einzigen Wort zunichtemachen und mich zurück ins Katzenloch bringen konnte. Der Präfekt war also die einzige Chance, die ich als hinreichend geeignet sah, dem Willen der Mutter zu begegnen, mich ihr zu entziehen und ihn als Verbündeten zu meiner eigenen Sicherheit zu gewinnen. Andererseits stellte ich mir vor, dass der Mutter im Grunde nicht viel daran lag, mich wieder zu Hause zu haben, konnte sie doch ohne uns Kinder ihr Leben weitaus besser und vor allem ungebunden führen. Diese Gedanken führten zu nichts und schufen in mir nur ein Gefühl der Hilflosigkeit und Angst. Zudem beraubten sie mich regelmäßig meines Schlafes, den ich angesichts meiner nunmehr ausgefüllten Tage so dringend benötigte.
Konrad war mir ein zuverlässiger Freund und eine Stütze in allen Situationen, die ich alleine nicht oder nur schwer bewältigen konnte. Wir schliefen damals noch nicht im gleichen Schlafsaal und trafen uns daher jeden Tag, bevor wir gemeinsam zum Frühstück gingen. Neben der Schule verbrachten wir jetzt jede freie Minute mit meiner zukünftigen Rolle als Torwart. Hierzu suchten wir uns eine kleine Wiese außerhalb des Internats aus, damit uns möglichst niemand beobachten konnte. Konrad brachte einen Fußball und dann vergingen Stunden, in denen ich nichts anderes tat als nach dem Ball zu springen, mich ins Gras zu werfen und seinen strengen Anweisungen so gut ich konnte zu folgen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, aus diesem Hänfling einen guten Torwart zu machen und es beeindruckte ihn in keiner Weise, dass ich schon bald von den Knien bis zu den Armen mit blauen Flecken überzogen war. Seine Schüsse wurden immer härter und genauer, doch zu meiner Verwunderung gelang es mir immer öfter, die Bälle sicher abzuwehren oder sie sogar fest in meine Arme zu schließen. Ich kannte jeden Grashalm dieser Wiese und sicherlich ist der Rasen noch heute von meinem Schweiß durchtränkt. Es war aber auch eine sehr lustige und harmonische Zeit, denn trotz all der Anstrengung konnten wir uns nie genug erzählen und mit der Zeit gab es kaum einen Flecken in unserem Leben, den der andere nicht kannte. Entgegen allen Anweisungen entschied ich mich während einer unserer Pausen, als wir schwitzend auf der Wiese saßen, Konrad von meiner Zeit im Martinihaus zu erzählen und wie ich letztlich hier nach Leutkirch gekommen war. Er hörte mir die ganze Zeit aufmerksam zu und bemerkte am Ende meiner langen Erzählung nur: „Nun bist du ja hier.“
Irgendetwas in diesem Haus war anders, zumindest empfand ich es so, denn inmitten der mit menschlichen Fehlbarkeiten angereicherten Normalität, fand sich immer ein Ausweg zugunsten des Friedens und der Harmonie. Dabei waren es bestimmt keine Heiligen, die da lärmend durch die Gänge stürmten und sich ab und an heftig in den Haaren lagen, sich lautstark die Meinung sagten und natürlich auch sonst vor keiner Reiberei und den üblichen Handgreiflichkeiten zurückschreckten. Hier liefen keine langweiligen Mönche mit gesenktem Blick stumm durch dunkle Torbögen, sondern junge Buben rannten mit all der Energie, die ihnen das Leben zur Verfügung stellte, durch helle Säle und Gänge und ließen dieses Haus zum Leben erwachen. Dieses Haus mit seinen endlosen Gängen und Sälen war unser Zuhause, nicht Vater oder Mutter begleiteten unseren täglichen Weg durch die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens, sondern Priester, Nonnen und Erzieher, von denen die meisten hier ihren Zivildienst absolvierten. Wenn ich heute die Klagen vieler Eltern höre und von all den Schwierigkeiten lese, die mit der Erziehung der jungen Generation verbunden zu sein scheinen, dann muss der Präfekt Redies und seine Mannschaft ein wahres Wunder an uns verbracht haben, denn mein Eindruck war, dass alle Buben gerne in diesem Haus waren und es war damals wie heute keine Frage, dass wir uns dort wohlfühlten. Vielleicht lag es daran, dass dies nicht nur ein Haus war und auch kein Wohnheim, sondern ein Zuhause, in dem es weit mehr zu erleben gab als drei Mahlzeiten am Tag und die Sportschau am Wochenende. Für uns alle öffnete sich hier eine Welt des Geistigen, der Ideen und der Gedanken, die uns bewusst durch den Tag begleiteten und uns die Last auferlegten, uns und unser Tun unablässig infrage zu stellen. Was immer in diesem Hause auch geschah, es geschah für uns, denn wir waren hier das Wichtigste, der Mittelpunkt des Seins und in der Tat waren wir für diesen kurzen Moment unseres Lebens das Salz der Erde.
Ich hatte mich inzwischen an meine wöchentlichen Freitagsgespräche gewöhnt und, obwohl ich vor dem ersten Gespräch meine Bedenken hatte, fühlte ich mich zunehmend wohl an diesen Abenden, wenn ich alleine mit dem Präfekten in dessen Büro saß und dort ausgiebig über alles plaudern konnte, was sich in der vergangenen Woche in meinem Leben ereignet hatte. Er bemühte sich spürbar mich so wenig wie möglich über andere Jungen auszufragen, damit ich nicht in den Verruf kam, ein Spitzel des Präfekten zu sein. Was immer ich ihm in diesen Gesprächen anvertraute, blieb unter uns und das war gut, denn es machte mir das Erzählen ganz erheblich leichter. Es lag mir viel daran, gerade ihm alles zu erzählen, was in den vergangenen Tagen vor sich gegangen war und welche Auswirkungen diese Ereignisse auf mich hatten. Wenn wir so in seinem Zimmer saßen und meistens nur eine einfache Tischlampe den Raum erhellte, dann fühlte ich mich erleichtert, wie nach einem langen Marsch, wenn man endlich das Etappenziel erreicht hat. Ich hatte wahrlich ein sehr großes Bedürfnis mich mitzuteilen und meine Tore soweit wie möglich zu öffnen.
Die letzten Jahre waren nicht leicht für mich gewesen und während der vergangenen Wochen hatten mich die Realitäten allzu nah an den Abgrund getrieben, von dem er mich mit helfender Hand langsam wieder auf festen Grund gezogen hatte. Mir fehlte mein Großvater, der mir zuhören und mich mit seiner verständnisvollen Anteilnahme umarmen würde. Mir fehlte meine Schwester, der ich immer alles anvertrauen konnte. Und gerade jetzt war alles so neu und doch trug ich dieses Geheimnis mit mir herum, diesen schmutzigen, schwarzen Fleck auf meiner Seele, den ich unbedingt geheim halten musste, obwohl in mir der Wunsch immer stärker wurde, diesen Makel endlich in alle Welt zu schreien, um Vergebung zu bitten und für alle Zeiten davon reingewaschen zu werden. Ich wollte endlich wieder ein ganz normaler Junge sein. Ich wollte geliebt werden und hatte doch Angst davor, Angst nicht zu genügen, zu enttäuschen und verstoßen zu werden. Dem Präfekten Redies konnte ich dies erzählen, mich öffnen und ihm Einblick in meine dunklen Kammern geben, in die das Licht der Sonne nur sehr selten fiel.
Im Gegensatz zu meiner Mutter und dem Familienrat, die alle dem Prinzip der Abschreckung huldigten und uns Kinder mit Drohungen und Angst auf den, nach ihrer Ansicht, richtigen Pfad der Tugend drängen wollten, hörte dieser schwarz gekleidete und hagere Mann einfach zu. Er stellte Fragen und wollte verstehen, wollte sicher sein, dass sein Rat für mich von Nutzen war und sicherlich wollte er nicht diese zaghaft geöffnete Türe durch nutzlose Plattitüden gleich wieder schließen. Oft waren es wenige Worte, die er mir am Ende eines Gespräches mit auf den Weg gab und es damit immer wieder schaffte, mich für eine weitere Woche mit diesen Worten zu beschäftigen. Meinem tief empfundenen Wunsch nach Liebe setzte er einen einfachen Satz entgegen: „Wenn du geliebt werden willst, dann musst du zuerst einmal damit beginnen, dich selbst zu lieben. Warum sollten dich andere Menschen lieben, wenn du dich selbst nicht einmal für liebenswert hältst?“ Ich spreche sicher nicht für alle Priester, von denen mir die meisten bis heute sehr suspekt erscheinen, aber dieser Mensch trug eine Ruhe in sich, die mich faszinierte, eine solche innere Kraft ausstrahlte, die weit über die Schläge und Prügel hinausging, die mich im Katzenloch so oft peinigten und mich mit Angst und Schrecken unter den nächsten Tisch trieben. Seine Kraft brachte mich wieder ans Tageslicht, gab mir Vertrauen und ein wenig seiner Kraft blieb in mir, um mich zu formen und in kleinen Schritten zum Menschen werden zu lassen.
Diese Gespräche waren aber auch deshalb für mich so wichtig, weil ich wieder eine Woche geschafft hatte, wieder eine Woche, die ich ohne größere Verfehlungen überstanden hatte und mich wieder einige Schritte weiter vom Martinihaus und den dortigen Vorkommnissen entfernen konnte. Was mir mit meinen Erinnerungen durchaus gelang, das blieb in meiner Seele ohne Erfolg, denn der Blick über die Brücke, den ich in dieser letzten Nacht im Martinihaus so entschlossen wagte, wollte mir nicht entschwinden und war seit diesem Tage ein Teil meines Seins geworden. Es erschreckte mich nicht mehr, sondern war nun Ausweg und Lösung. Die Aussicht auf eine selbst gewählte Heimkehr gab mir die Sicherheit und den Trost, dass kein Schmerz unausweichlich sein musste und ich jeder Qual für immer entfliehen konnte, wann und wo ich dies für notwendig und angebracht hielt. Die Freundschaft mit dem Tod gab mir seither immer wieder die Kraft, mein Leben auszureizen und jeden Schmerz, auf der Suche nach meinen eigenen Grenzen, zu ertragen und zu überleben. Die Freitagsgespräche erleichterten das Bleiben sehr.
Inzwischen hatte Konrad alles für mein Debüt als Torwart vorbereitet und meine wohl größte Prüfung stand mir nun bevor. Die Klassenmannschaft hatte mich zu ihrem regelmäßigen Trainingsspiel eingeladen und ich sollte im Tor stehen. Mir war natürlich klar, dass sich jeder anstrengen würde, alle meine Schwächen zu entblößen und dabei keine Nachsicht zu zeigen, da es um Fußball ging und man sich keinen Weichling ins Tor stellen wollte. Schon Tage zuvor redete ich mir ein, dass mein intensives Training mit Konrad ausreichen musste, um die Mannschaft davon zu überzeugen, dass ich ihr Torwart war. Doch all dies konnte selbst mich nicht davon überzeugen, dass ich diese Prüfung bestehen würde und ein Versagen wäre ungleich schlimmer gewesen, als nie in diesem Tor gestanden zu haben, denn ich wäre derjenige gewesen, den keiner haben wollte. An diesem Nachmittag stand alles auf dem Spiel, meine Freundschaft mit Konrad, mein Leben hier im Hause und schließlich auch der Respekt vor mir selbst.
Diese Gedanken lagen mir schwer im Magen und meine Zweifel wurden nur noch schlimmer, als ich die anderen im Umkleideraum traf. Da saßen sie, lachend und sichtlich guter Laune und zogen sich ihre ausgetretenen Fußballschuhe an, die mir einen ersten Einblick davon gaben, was mich nun gleich erwarten sollte. Konrad hatte mir unauffällig ein paar Fußballschuhe besorgt, da ich selbst natürlich keine besaß und mein bisheriges Dasein mit ganz normalen Turnschuhen fristete. Dann zogen wir alle gemeinsam auf den Fußballplatz und, obwohl ich mich in dieser Gemeinschaft sehr wohl fühlte, ließ mir der Anblick des Tores dann doch fast das Blut in den Adern gerinnen. Ich konnte es kaum fassen, wie groß dieses Tor war und wie sehr es bei genauer Betrachtung immer noch größer wurde. Ich versuchte mich locker zu geben und ging langsam zu dem Tor, dessen weiße Holzpfosten mir, nun aus der Nähe betrachtet, wie ein Galgen vorkamen.
Konrad war zum Glück der Einzige, der meine innere Panik erkannte. Er stellte sich zu mir und sagte mit ruhiger Stimme: „Vergiss jetzt alles und schau nur auf den Ball. Das passt dann schon!“ Er warf mir ein paar einfache Bälle zu und ich nutzte die Gelegenheit, mir noch einmal die anderen Spieler anzusehen. Da waren solche Jungen wie Theodor Dambacher und Albert Württemberger, die gewaltige Schüsse auf das Tor losließen und geradezu vor Kraft strotzten. Andere, wie Wilhelm Mißler, waren eher technisch begabte Spieler und ihre Schüsse auf das Tor waren beängstigend genau. Dann kamen auch noch andere Jungen aus den höheren Klassen dazu und man formte daraus zwei Mannschaften. Ich kann mich kaum noch an den Verlauf dieses Spiels erinnern, noch könnte ich mit Sicherheit sagen, was ich selbst während des Spiels getan hatte, aber jede meiner Wunden und jeder Tropfen Blut waren es mir wert gewesen, an diesem Spiel teilgenommen zu haben. Für diese Stunde gab es kein Katzenloch und auch kein Leutkirch mehr, da waren keine Zweifel und auch keine Brücke, da waren nur noch ich und der Ball. Ich warf mich vor die Angreifer, griff zwischen tretende Beine und sprang, wohin immer dieser Ball auch flog. Ich erwachte erst wieder aus diesem Traum, als mich die anderen Jungen am Ende des Spiels umarmten, mir auf die Schulter klopften und mir anerkennende Worte spendeten. Wir hatten gewonnen und ich war ab sofort ihr neuer Torwart.
Ich hatte hier im Studienheim Regina Pacis bislang sehr viel schöne Tage erlebt und ganz allmählich begann ich, ein Teil dieser Klasse zu werden. Sicherlich, meine Freundschaft mit Konrad half mir sehr, doch zum ersten Mal hatte ich selbst wesentlich dazu beigetragen und war kein Freak und Sonderling mehr, sondern ein Junge, wie alle anderen auch. Doch am Horizont standen immer diese Wochenenden, an denen alle das Haus verlassen mussten und zu ihren Familien fuhren. Für mich bedeutete dies zwei oder mehr Tage im Katzenloch und einer Familie, die nicht mehr die meine war. Natürlich freute ich mich, meinen Großvater und meine Schwester wieder zu sehen, doch wäre es mir weitaus lieber gewesen, wenn wir uns fernab auf einer Insel hätten treffen können. Aber diese Wochenenden waren nicht zu vermeiden, denn es gab keine Ausnahmen, auch nicht für mich.
Die Vorbereitungen begannen meist schon Tage zuvor, denn da waren Fahrkarten für den Zug zu kaufen und all die alte Wäsche musste gepackt werden, damit diese zu Hause wieder gewaschen werden konnte. Zu meinem Glück war ich auf dem Weg von Leutkirch nach Geislingen nicht ganz alleine, denn ein paar meiner Klassenkameraden wohnten in Orten, die an der Strecke nach Ulm lagen. Wir nahmen natürlich immer den gleichen Zug und hatten ausreichend Spaß auf der Fahrt. Doch die Gruppe wurde mit jedem Halt weniger, das Lachen verstummte, und machte der Stille und der Sorge Platz, die sich auf den nun freien Plätzen in meinem Abteil breitgemacht hatte. Dann saß ich schließlich alleine in meinem Abteil und verließ den Zug in Ulm, um meinen Anschlusszug nach Geislingen zu nehmen. Am Hauptbahnhof in Ulm gab es immer viel zu sehen und ich nutzte die Zeit bis zu meiner Weiterfahrt meistens dazu, mir eine Wurst zu kaufen und dann den Zügen zuzusehen, die hier ankamen, losfuhren oder einfach umrangiert wurden. Ich verstand etwas von Zügen und Bahnhöfen, denn mein Großvater arbeitete lange Jahre bei der Eisenbahn und hatte mir über die Zeit viel davon erzählt. Der Aufenthalt in Ulm war immer zu kurz, es sei denn, dass mir das Schicksal gnädig gestimmt war und mir eine willkommene Verspätung gönnte. Es waren nur noch etwa dreißig Kilometer bis Geislingen und selbst der einfachste Nahverkehrszug schaffte diese Strecke in viel zu kurzer Zeit. Aber auch da gab es kein Entrinnen.
Es muss auf diesen Fahrten gewesen sein, als ich damit begann, mich in mir selbst zu verlieren. Meistens blickte ich verloren aus dem stehenden Zug, bis man die Pfeife des Schaffners hörte und der Zug sich ganz langsam in Bewegung setzte. In diesen Momenten schweifte mein Blick immer weiter in die Ferne, bis eine angenehme Dunkelheit über mich kam. Ich sah die grünen Felder der Alb und den Schnee auf den Wipfeln der Bäume, da waren ganze Herden mit Hirschen und Rehen, aber auch wilde Reiter und wunderschöne Prinzessinnen. Ich zeichnete mir meine Welt in die Umrisse der vorbeifliegenden Landschaft und begann schon bald in dieser Welt zu leben. Bei meiner Ankunft in Geislingen war ich meist noch auf einer meiner Reisen und schwebte wie auf Wolken über den Bahnsteig hin zum Ausgang, wo mich der Anblick des gelben Opel Kadett meiner Mutter ganz schnell wieder in das Land der Realitäten brachte. Die ersten Wochenenden nach meinem Fall im Martinihaus waren von eisiger Kälte und erzwungenen Höflichkeiten geprägt. Es war eben doch nichts vergessen und schon gar nicht verziehen worden. Auf der kurzen Fahrt ins Katzenloch fragte mich die Mutter nur, ob ich mir etwas zuschulden kommen ließ, ob das Geld ausgereicht hatte, um alles zu bezahlen und wie es um meine schulischen Leistungen stand. Damit war das Interesse an mir, ihrem verlorenen, aber dennoch lebenden Sohn, weitgehend erschöpft und die sich dann ausbreitende Stille sollte mir bestimmt ihre tiefe Enttäuschung so deutlich, wie nur möglich machen. Zu Hause angekommen stürzte sie sich umgehend auf die mitgebrachte Wäsche und wies mich nebenbei darauf hin, dass es in der Küche noch Gulasch mit Semmelknödeln gab. Danach war ich mir selbst überlassen und ich setzte mich gerne auf den kleinen Balkon, blickte über das Katzenloch und die Bahnlinie hinweg auf mein Ostlandkreuz und begann die Stunden zu zählen, die mir noch bis zu meiner Abfahrt nach Leutkirch blieben.
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals wieder ein persönliches Gespräch miteinander führten, wenngleich diese Gespräche auch vor meinem Fall in die Ungnade eher rar gewesen waren. Auch der Familienrat zeigte sich von seiner kältesten Seite und ich schreibe es den Bemühungen meines Großvaters zu, dass wenigstens die Großmutter nach langer Zeit wieder etwas zugänglicher geworden war. Mit jedem Wochenende, das ich zu Hause verbringen musste, waren wir uns schließlich noch fremder geworden, bis sich die normale Konversation nur noch auf Essen, Bügeln, Einkaufen und allgemein organisatorische Fragen beschränkte. Es gab auch nichts mehr zu besprechen, denn das Interesse am Leben des Anderen war endgültig erloschen. Alles, was blieb, war die Zugehörigkeit zu dieser Familie, die schon lange keine solche mehr war. Wann immer es mir möglich war, begleitete ich an diesen Wochenenden meinen Großvater auf einem seiner langen Spaziergänge und fand dort die Menschlichkeit, die ich suchte. Meine Schwester war inzwischen in die Reihen der pubertierenden Teenager aufgerückt und beschäftigte sich mit Themen, die dem Familienrat mehr als suspekt erschienen. Aber wir beide waren nun enger zusammen als jemals zuvor und ihre Erlebnisse waren für mich der Blick in die Zukunft. Für die anderen Familienmitglieder lag mein Schicksal nun in den Händen des Präfekten Redies und ich bin mir auch heute noch nicht sicher, ob meine Mutter jemals erahnte, was die Aufnahme in die Klassenmannschaft für mich bedeutete oder ob es sich ihr jemals erschloss, wie sehr mich die Freitagsgespräche geformt und verändert hatten. Sie hatte ihren Sohn für immer verloren und das schien sie an ganz normalen Tagen auch nicht besonders traurig zu stimmen. Es gibt eben Dinge, vor denen es einfach kein Entrinnen gibt.
5
Erinnerungen mögen schwinden, Bilder und Erlebnisse können im Rauch der Zeit verblassen, doch in jedem Leben gibt es entscheidende Abschnitte, die, mehr als einfache Momente, Einfluss auf den weiteren Gang der Dinge nehmen, sich über den Menschen legen und der Seele die Türe öffnen. In diesen Zeiten nehmen wir Abschied von Vertrautem, lassen Menschen und Orte weit hinter uns zurück und folgen dem Ruf einer Harmonie, die sich nur in diesen Abschnitten unseres Lebens als solche zu erkennen gibt, uns Licht spendet und den Weg erhellt, der uns vorgezeichnet und bestimmt ist. Ein solcher Abschnitt hatte für mich nun begonnen. Heimlich schlichen sich neue Gedanken, Klänge und Bilder in meine Tage, vereinnahmten mich und ließen mich im Sog der Zeit in eine Ferne ziehen, die so bestimmt und doch natürlich erschien, dass ich mich ihr widerstandslos hingab. Es war eine Zeit, die in ihrer Heftigkeit und ihrer Intensität zu Recht dem Leben selbst huldigte und als totgeweihter Engel, zum Ende des Jahres 1970, bereits das große Sterben einläutete, nur um als Idee die nächsten Jahrzehnte zu überdauern. Als im September des besagten Jahres Jimi Hendrix für immer seine Gitarre niederlegte und nur wenige Tage später die Stimme von Janis Joplin verstummte, verließen uns auch die Sinnbilder einer Lebenskraft, die sich durch ihre Intensität selbst zerstörte und sich letztlich mit dem Tod von Jim Morrison, im Sommer des folgenden Jahres, ein eigenes Denkmal schuf, welches in den Herzen einer ganzen Generation den Wunsch nach Freiheit und Liebe verewigte. Verkarstete Strukturen brachen ein und schufen die Keime der Hoffnung auf eine bessere Welt. Widerstand und Aufruhr zogen in unsere Leben und nicht zuletzt in unsere Seelen, um uns von Fesseln zu befreien, die uns allzu lange am Leben gehindert hatten. Die schlichte Intensität und Grenzenlosigkeit des so Gelebten fand im frühen Ende der Propheten erst die Rechtfertigung für sich selbst und nahm dem Tod das Recht, unsere Leben zu beschneiden. Nichts Geringeres, als der Sinn des Lebens, stand zur Diskussion und diese wurde heftig, ja geradezu leidenschaftlich geführt, um dem Sein endlich wieder das Leben zurückzugeben.
Natürlich waren wir noch zu jung, um alles zu verstehen, was da in kurzer Zeit auf uns hereinbrach, doch auch wenn uns intellektuell so manches nur in Teilen erreichte, so war doch das Lebensgefühl sehr schnell in uns eingedrungen und führte uns mit sicherer Hand in eine Welt, die uns in jedem Fall interessanter erschien, als alles, was wir bisher erlebt hatten. Diese Welle der Veränderung traf nicht alle im gleichen Maße und so war es nicht verwunderlich, dass sich mit der Zeit kleine Gruppen bildeten, die sich mehr oder minder stark in ihrer äußerlichen Erscheinung von den anderen absetzten. Die Haare wurden immer länger, die Jeans bekamen Risse und Löcher, bunte Tücher, Armreife oder andere Insignien dieser neuen Identität fanden schnell Verwendung und ersetzten die alte und ach so bürgerliche Kleidung, die uns bislang durchaus gute Dienste geleistet hatte. Neue Worte fanden Eingang in unseren Wortschatz und formten eine Sprache, die oft nur noch von Eingeweihten verstanden werden konnte. Schon bald verwendeten wir all unser Erspartes, um die neuesten Alben unserer Lieblingsgruppen zu kaufen und diese Klänge bestimmten fortan das Leben hier im Hause. Dabei spielte es keine Rolle, dass keiner von uns einen eigenen Plattenspieler hatte, denn der Präfekt war so verständnisvoll, uns ein Gerät des Hauses zur Verfügung zu stellen. Auch wenn dieses Ding nur schwerlich wiedergab, was da in den Plattenrillen verborgen war, so glich unsere Fantasie diesen Umstand problemlos wieder aus, denn wenn wir zusammen in einem Raum saßen und gemeinsam unsere Musik hörten, dann träumten wir von dem Leben, das uns Zeitschriften so eindringlich beschrieben. Die kahlen Wände der Schlafsäle erweckten wir mit allerlei Postern zum Leben und hier waren sie alle lebendig, unsterblich und Teil unseres Lebens.
Doch der innere Drang, den diese Zeit in uns geschaffen hatte, musste weiter gehen, als dies ein paar Poster an der Wand taten. Es mussten Regeln gebrochen werden. Dies geschah am Anfang noch im Geheimen, da uns trotz all der Faszination schlicht der Mut fehlte, offen gegen Regeln anzukämpfen und vor allem, die damit unausweichlich verbundenen Konsequenzen zu tragen. Ich befand mich plötzlich in einem fast ausweglosen Dilemma, da ich einerseits das vom Präfekten in mich gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen, aber andererseits unbedingt ein Teil dieses Erlebnisses sein wollte. Es war mir daher mutig genug, mich mit den anderen am Abend an einer abgelegenen Ecke außerhalb des Hauses zu treffen und dort mit großem Gehabe Zigaretten zu rauchen. Meine erste Zigarette war eine Kurmark und, wie nicht anders zu erwarten, war dies alles andere als ein Genuss, denn außer Husten und Übelkeit gab mir diese Zigarette nichts nennenswert Angenehmes. Aber darauf kam es an diesen Abenden auch nicht an, denn was zählte war, dass wir zusammen an dieser Ecke standen und ein Verbot missachteten. Es war ein wunderbares Gefühl und es dauerte dann auch nicht lange, bis der erste Jägermeister unter uns weilte und damit einen weiteren Schritt in die Ungehorsamkeit unternahm.
All dies fand im Stillen statt und wir verwendeten viel Mühe darauf, unsere kleine Rebellion so geheim, wie nur irgendwie möglich, zu halten. Dieser Zwiespalt zwischen versteckter Rebellion und gehorsamer Anständigkeit legte zwar den Grundstein für unsere Menschwerdung, doch entstand hierdurch auch ein nahezu chaotisches Gefühlsgemisch, das jederzeit explodieren konnte. Die ersten Anzeichen dieser unterschwelligen Instabilität machten sich vor allem in der Schule bemerkbar, als sich der überschwängliche Leichtsinn unserer Jugendjahre in offene Aufsässigkeit und direkte Aggression verwandelte und unsere Klasse zeitweilig zum Albtraum des Lehrerkollegiums werden ließ. Vielleicht war es gerade dieser Zwiespalt, der unsere Klasse bei allen Problemen, die wir jeden Tag schufen, auch weiterhin zu einer der Klassen mit den besten Noten in der Schule machte. Es gehört eben zu den Privilegien der Jugend, die Extreme für sich zu erkunden und es ist ein nicht minder wichtiger Teil des Menschwerdens, bei diesen Forschungsreisen nicht von einer der vielen Klippen zu fallen, die sich immer hinter jedem Extrem befinden. Der menschliche Geist kann das Wesen der Dinge jedoch erst in seinen Extremen erfassen und sucht daher auch zur Erklärung seiner eigenen Existenz stets den Tod als Gegenstück zur Geburt. Doch das Leben ist nicht Geburt, noch ist es der Tod, sondern muss zwischen diesen beiden Extremen geführt werden. Wir waren im Begriff, unseren Platz für uns selbst auszumachen und unsere eigene Rolle im Leben zu finden.
Das Wesen dieser Zeit hatte auch ausreichend Einfluss auf das Leben im Hause selbst und, wie von magischer Hand gelenkt, begannen sich viele Dinge im Umgang miteinander zu verändern. Es schien fast so, als hätten die Träume der Blumenkinder auch die Erzieher und sogar den Präfekten Redies selbst erreicht, wobei die im Haus tätigen Nonnen hiervon natürlich ausgenommen waren, denn sie lebten in einer ganz anderen Zeit und waren geradezu immun gegen alle weltlichen Veränderungen. Ich erinnere mich noch an meine ersten Wochen hier in Leutkirch, als es noch üblich war, dass die älteren Jahrgänge ihren Unmut an den Jüngeren ausließen, was in meinem Fall dazu führte, dass mir mein Tischältester bei jedem Essen so lange mit der Faust auf die Schulter schlug, bis ich diese kaum noch bewegen konnte. Als ich ihm die blau unterlaufene Stelle zeigte, lachte er nur hämisch und nahm sich freundlicherweise die andere Seite vor. Mein Versuch, dies dem Präfekten zur Kenntnis zu bringen, war nicht unbedingt von Erfolg gekrönt und fand nur wenig Verständnis, denn offensichtlich war alles gut, was uns hart machte. Inzwischen waren wir selbst in die älteren Jahrgänge aufgerückt und die Rüpel von damals hatten bereits das Haus verlassen. Nun auf einmal war jegliche Gewalt und vor allem körperliche Gewalt völlig unakzeptabel und jeder Verstoß wurde sofort und konsequent verfolgt und bestraft.
Ein neuer Geist hielt Einzug in diese Mauern und es war ein besonderer Vorzug junge Erzieher wie Rudolf Hagmann unter uns zu haben, die uns als Zivildienstleistende den Gewaltverzicht selbst vorlebten und sich mit ihren Bärten und langen Haaren nicht sehr von uns unterschieden. Wir saßen an vielen Tagen mit ihnen zusammen und fanden in ihnen Menschen, die nicht nur Antworten auf unsere Fragen hatten, sondern sich selbst spürbar mit diesen Fragen herumgeplagt hatten. Diese langen Gespräche bewirkten sehr viel, denn sie hielten uns von so manchem Abgrund fern, der sich da auf unserem Weg auftat. Sie zeigten uns Wege auf, die wir selbst nicht sahen. Vor allem aber wurden wir endlich ernst genommen. Zu unserer Überraschung wurden sehr bald auch Änderungen an den regelmäßigen Gottesdiensten und Meditationen vorgenommen und man bezog uns plötzlich viel stärker in die Gestaltung und Durchführung ein. Die Themen rückten näher in unsere Welt und selbst die uns vertraute Musik erklang nun in der Hauskapelle. Immer öfter gab es eine Jazzmesse, bei der wir selbst spielten und so zu Akteuren in einer Welt wurden, die uns oft als gegensätzlich und widersprüchlich erschien. Wir wurden nicht festgehalten und dem Wort Gottes unterworfen, sondern laufen gelassen und in eine Erfahrung einbezogen, die wir in ihrer Konsequenz annehmen konnten oder auch nicht. In diesen Tagen des Umbruchs rückte diese Kirche näher zu uns heran, bot sich an und reichte uns eine helfende Hand, um Ruhe in das innere Chaos unserer Seelen zu bringen, sicherlich aber auch, um uns nicht für immer zu verlieren.
Ich wusste nur zu gut, wie gefährlich selbst so ein einziger Gedanke sein konnte, eines dieser Wesen, die sich einem in den Kopf setzen und dann zwischen Seele und Geist ihr Unwesen treiben, solange und unaufhörlich, bis sich die Verzweiflung über den ganzen Körper ergießt und diesen so lange quält, bis er sein Heil in der Ausweglosigkeit sucht. Man sollte sich daher tunlichst davor hüten, solche Gedanken in den jungen Menschen zu wecken, wenn man nicht zur gleichen Zeit geeignete Antworten bereithalten kann, um das Elend einer gequälten Seele zumindest zu lindern, anstatt sie gleich mit einem heftigen Stoß über die Klippe in den Abgrund der Melancholie zu stürzen. Ich spürte, wie dieses Gefühl in mir zu wachsen begann, denn an fruchtbarem Nährboden fehlte es keineswegs. Von meinem Vater hatte ich seit Langem nichts mehr gehört, außer, dass er sich wohl in seinem wilden Leben sehr wohl fühlte und ich darin keinen Platz mehr hatte. Die Mutter war, wie der ganze Familienrat, zutiefst von mir enttäuscht, und hatte mich ohnehin schon als schwarzes Schaf der Familie abgeurteilt. Auch wenn sie alle immer brav in die Kirche gingen, hatte sich das Prinzip der Vergebung kaum in ihren Herzen festsetzen können. Mit der Zeit entspannte sich zwar das Verhältnis zu meiner Familie und mit jedem Monat, den ich verbrachte, ohne im Gefolge von Charles Manson zum Massenmörder zu werden, konnte ich meine Rehabilitation einen Schritt weiter treiben, obwohl mir daran inzwischen nicht mehr viel gelegen war, denn zu viel Zeit war vergangen, in der mich keiner mehr in den Arm nahm, sich jemand ehrlich für mich interessierte oder gar Anteil an dem Leben nahm, das ich im Begriff war, zu führen. Ich fühlte mich wie ein einsamer Rabe auf einem Ast, der schon so morsch war, dass er selbst schon bald unter dem Gewicht des kleinen Raben brechen würde. Zum Glück musste ich für die nächsten Jahre keine wichtigen Entscheidungen treffen und konnte mich im Schutz des Internatslebens bewegen, zumindest solange meine schulischen Leistungen akzeptabel waren und ich keinen weiteren Zwischenfall, wie im Martinihaus wagte. Das musste zu schaffen sein.
Neben all den anderen Dingen, die mich jeden Tag so umtrieben, entdeckte ich meine Liebe für die Kunst und ganz besonders fürs Zeichnen. Daneben spielte ich seit einiger Zeit in der Theatergruppe, übte mich auch weiterhin an der Klarinette und später sogar am Saxofon. Ich war festes Mitglied der Bläsergruppe und spielte oft bei einer der Jazzmessen mit, die wir hier im Hause abhielten. Angeregt durch die vielen Innungen begann ich sogar mit einfachen Holzschnitzereien, nahm davon jedoch bald wieder Abstand, nachdem ich mir einmal mit dem Schnitzmesser fast die Pulsadern am linken Arm aufgestochen und mir nur Tage später die Fingerkuppe des linken Zeigefingers so zerschnitten hatte, dass ich sofort ins Krankenhaus musste, wo man akribisch daran arbeitete, die Sehne und den Rest des Fingers wieder in die ursprüngliche Form zu bringen. Handwerkliche Fähigkeiten waren offensichtlich nicht meine Begabung und so begnügte ich mich weiter mit Papier und Bleistift. Zumindest war beim Zeichnen die Gefahr doch eher gering, dass ich mich selbst verstümmeln würde, wobei dieser Gedanke doch eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausübte. Ich verbrachte jede freie Minute mit dem Bleistift und zeichnete alles, was mir gerade so durch den Kopf ging. Bald gesellte sich mein Klassenkamerad Jürgen Geisinger zu mir und gemeinsam zeichneten wir unsere Träume auf die zahllosen Stücke Papier, die sich inzwischen in unseren Pulten stapelten. Anfangs übten wir an Asterix Figuren, da unsere Kunst noch lange nichts mit Können zu tun hatte und auch Träume gewisse Fähigkeiten erforderten, um sich auf einem weißen Stück Papier zu entwickeln. Aus diesen Zeichenübungen wurden schnell Karikaturen und Fantasiegebilde, die bisweilen doch recht bizarre und skurrile Formen annahmen. Wir fanden auch bald einen dritten Künstler in unserem Bunde, dessen Zeichnungen vor allem mich sehr beeindruckten. Lorenz Briechle war in der Schule unser Klassenkamerad, jedoch war er kein Bewohner des Internats, sondern lebte mit seinen Eltern unweit von unserem Hause. Jedes Werk der Anderen entfachte den Ehrgeiz, ein noch besseres Bild zu zeichnen und auf spielerische Weise regte diese Zusammenarbeit unsere Fantasie in genialer Weise an.
Überhaupt war es faszinierend, was da so alles in mir steckte und wie spielerisch ich die verschiedenen Interessen und Begabungen miteinander vereinbaren konnte. Meine Liebe zur Kunst fügte sich nahtlos in all meine sportlichen Aktivitäten ein. Ich war noch immer Torwart und dies inzwischen sogar für die Hausmannschaft. Es gab kaum etwas, das ich nicht versuchte und die Tatsache, dass ich dabei meistens erfolgreich war, sorgte dafür, dass sich auch mein Selbstbewusstsein langsam, aber sicher, zu einer gesunden Größe entwickelte. Meine Mutter nannte es Arroganz und sah in mir meinen Vater heranwachsen, den sie noch immer dafür verantwortlich machte, dass er sie in dieser Einöde hatte sitzen lassen und selbst in Saus und Braus lebte. Überhaupt war der gute Mann für verblüffend viele, wenn nicht für alle Unwegsamkeiten ihres Lebens verantwortlich und da ich die Mutter in meinem Wesen ganz offensichtlich jeden Tag an ihn erinnerte, musste auch ich meinen Teil dieser Schuld tragen. Auf diese Weise sorgte sie gekonnt dafür, dass ich nicht allzu übermütig wurde und mich jedes Mal ein tiefes Schuldgefühl überkam, wenn ich wieder einmal mutig war und über meinen Schatten springen wollte.
Ich versuchte mit diesem Umstand so gut wie möglich zu leben und sprang dennoch immer wieder über meinen eigenen Schatten. In gewisser Weise schützten mich meine jetzigen Freundschaften, denn hier war ich sehr selten alleine und konnte meine Angst und Schuldgefühle leicht in der Herde verstecken. Auf der anderen Seite war ich weit genug vom Katzenloch entfernt, um in dieser Distanz auch so viel wie möglich im Geheimen zu tun, zumindest was meine Mutter anbetraf, denn sie besuchte mich ausgesprochen selten im Internat und hier in Geislingen lag es nur an mir, was ich ihr erzählte. Auf diese Weise führte ich ein sehr nützliches Schattendasein, das ich zu weiten Teilen so gestalten konnte, wie es mir besonders dienlich war. Dennoch erschien es mir als ausgesprochen merkwürdig, dass meine Mutter tatsächlich davon ausging, ich würde ein solch langweiliges Dasein führen, dessen Höhepunkte kaum über die nächste Klassenarbeit oder ein belangloses Fußballspiel hinausgingen. Ich glaube inzwischen, dass es ihr letztlich ganz angenehm war, wenn ich nicht mehr erzählte und sie nach meiner Rückreise wieder ruhig schlafen konnte, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass sie nicht alles erdenklich Notwendige für ihr eigenes Fleisch und Blut getan hätte. In dieser Scheinwelt lebten wir so vor uns hin, ohne irgendetwas voneinander zu wissen, denn auch sie erzählte mir kaum etwas aus ihrem Leben, dem Beruf oder gar von Freunden, mit denen sie ihre Zeit verbrachte, wenn ich nicht zu Hause war. Und natürlich gab es auch jetzt keine Besuche von Menschen, die nicht der Familie angehörten, sodass unsere gemeinsamen Tage eher einem surrealen Traum glichen.
Es muss in diesen Jahren gewesen sein, dass mein Vater wieder heiratete und der Umstand, dass es eine jüngere Frau war, die auch noch aus dem lebhaften München kam, setzte meiner Mutter so zu, dass sie sogar einmal davon redete. Diese Regina Lederer, wie die neue Frau meines Vaters hieß, war in vielerlei Hinsicht für meine Mutter der Inbegriff des Bösen, da sie nicht nur ihren geschiedenen Mann heiratete, nun, da er endlich vermögend geworden war, sondern sie hatte auch den Mann geheiratet, den meine Mutter noch immer liebte. Jedoch wurde darüber nicht viel gesprochen, denn das hätte ihr Stolz nie erlaubt. Erst als meine Schwester sich dann dazu entschieden hatte, das alte Katzenloch für immer zu verlassen und zu meinem Vater und dessen neuer Frau zu ziehen, war all der Schmerz wieder in sie zurückgekehrt. Doch auch der Hochverrat der undankbaren Tochter ging schon nach wenigen Tagen wieder in der gespielten Gleichgültigkeit und Härte der Mutter unter, denn sie war schließlich auf niemanden angewiesen, brauchte niemanden und auch ich konnte natürlich gleich zu meinem Vater ziehen, wenn mir danach zumute gewesen wäre. Ihre Familie, oder was eben noch davon übrig war, begann sich von ihr zu trennen, sie zu verlassen und sich weiter aufzulösen. Auch wenn sie nur wenig Worte jemals über diese Dinge verlor, so muss sie dies doch schwer getroffen haben. Der Vater hatte einen Sieg errungen und ohne besonderes Zutun eines seiner Kinder wieder zu sich geholt.
Nun war ich also der letzte Hinterbliebene, der noch an der Seite der Mutter stand, denn ihr Verhältnis zu meinen Großeltern und zu ihrer eigenen Schwester gestaltete sich zunehmend schwierig und artete bisweilen in ein nicht mehr nachvollziehbares Chaos aus, das einer epischen Tragödie sehr nahe kam und dem ich trotz aller Bemühungen nicht gänzlich entfliehen konnte. Die Gründe für diese Entwicklung lagen tief, zu tief, um sie mit Logik oder simplen Argumenten bewältigen zu können. Die Zeit war nun gekommen, um alte Rechnungen zu begleichen und alle Beteiligten hatten ein diabolisches Interesse sich gegenseitig bis an die Schmerzgrenze zu zerfleischen. Keine Gemeinheit, keine Beleidigung oder Intrige und selbst keine noch so dreiste Verleumdung waren ausreichend, um die Streitenden in ihrem Hunger nach Blut zufriedenzustellen und auch nur die Spur einer Hoffnung auf den von mir so ersehnten Familienfrieden aufkommen zu lassen. Natürlich wäre es in dieser Situation eine durchaus nützliche Entscheidung gewesen, wenn man sich ganz einfach aus dem Weg gegangen wäre, aber der kleine Familiendämon, der sich da in die Herzen geschlichen hatte, musste wohl ein anderes Szenario im Schilde geführt haben. Am schlimmsten waren wie immer die großen Feste und da vor allem Weihnachten. So waren für mich schon die Wochen vor dem Jahresende mit einer nur allzu scheußlichen Vorahnung erfüllt, die sich mit jeder neuen Adventskerze immer weiter in nackte Angst verwandelte. Doch gerade an Weihnachten gab es kein Entrinnen und ich musste an diesem Schauspiel menschlicher Fehlbarkeit teilnehmen. Wie nicht anders zu erwarten, wurde mein Großvater und ich noch engere Verbündete und flohen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, in den winterlichen Wald, wo man uns sicher nicht finden konnte. In diesem aufreibenden Nahkampf geriet ich zunehmend, aber ohne eigenes Zutun, auch noch zwischen die Fronten, da sowohl die Mutter, wie auch die Gegenseite, auf einmal an meiner Sympathie Interesse zeigten und jeder Partei daran gelegen war, mich in ihrem Lager zu wissen. In diesen Tagen mutierte ich aus taktischen Gründen vorübergehend zuerst vom schwarzen, dann zum grauen und schließlich zum weißen Schaf der Familie, was jedoch leider nicht lange anhielt, denn im Buch der Geschichte hatte ich gefehlt und daran war nun nichts mehr zu ändern.
Doch bevor ich später erneut in die Ungnade meiner Mutter fiel, vollzog sich eine sehr unerwartete, wie auch unangenehme Veränderung, deren Auswirkungen mir noch viele Jahre danach zu schaffen machten und die wohl den Grundstein für den endgültigen Zerfall unserer Beziehung legte. Nachdem meiner Mutter zunächst nur daran gelegen war, mich innerhalb der Familie auf ihrer Seite zu wissen, was nach den gegebenen Umständen mehr als verständlich war, da sie ohne mich bei diesen Auseinandersetzungen ansonsten ganz alleine gewesen wäre, begann sie allmählich damit, unsere Beziehung für sich neu zu definieren und mich als den Mann an ihrer Seite zu sehen. Zusehends waren meine Wochenenden, die ich in Geislingen verbringen musste, mit neuen Anforderungen gefüllt und es wurde meine Aufgabe und Verpflichtung, die Mutter bei allen möglichen Anlässen zu begleiten. Besonders unangenehm habe ich das plötzliche Interesse der Mutter in Erinnerung, mir beim Duschen zur Seite zu stehen und ich sah mich schließlich dazu gezwungen, die Türe zum Badezimmer immer abzuschließen. Meine Versuche, mich mit allerlei Ausreden aus dieser Verantwortung zu stehlen und dieser neuen Rolle zu entfliehen, waren nicht sehr erfolgreich, da diese Versuche entweder völlig ignoriert oder mit enttäuschten und oft ärgerlichen Gesten erwidert wurden. Dies ging schließlich soweit, dass die Mutter ohne mein Wissen einen mehrwöchigen Urlaub in Frankreich plante und mich erst kurzfristig vor den Sommerferien in dieses Vorhaben einweihte. Normalerweise hätte ich mich über diese Reise freuen sollen, doch für mich waren die Zeiten im Katzenloch schon schwierig genug, aber die Vorstellung ohne den Schutz der gewohnten Umgebung mehrere Wochen alleine mit meiner Mutter zu verbringen, erschreckte mich zutiefst. Unter dem Vorwand, dass ich mich in diesen Schulferien auf eine wichtige Prüfung vorbereiten musste, lehnte ich den Vorschlag meiner Mutter ab. Von diesem Tag an musste ich sie nicht mehr begleiten, auch dann nicht, wenn es angebracht gewesen wäre, und so wurde ich zu einem Stück Möbel, das man irgendwo im Haus verstaut. Für eine sehr lange Zeit redeten wir nur noch über die nötigsten Dinge und meine Wochenenden wurden zur Verbannung, zur Einzelhaft und brachten mein Leben für diese Tage immer nahezu zum Stillstand. Ich existierte ganz einfach nicht mehr, hatte keine Bedürfnisse zu haben und mich ruhig zu verhalten, bis die Wäsche gewaschen war und mein Zug zur Abfahrt bereitstand.
Meine Fahrten zurück nach Leutkirch gaben mir ausreichend Zeit zum Nachdenken, doch meistens verfiel ich in eine tiefe Traurigkeit und begann wieder von meinen vielen Abenteuern zu träumen, die mir durch den Kopf gingen, wenn ich mit halb geschlossenen Augen verträumt aus dem Zug starrte. Ich konnte einfach nicht verstehen, welche unverzeihliche Schuld ich auf mich geladen hatte, dass ich nun alleine in dieser Welt stand. Was hatte ich meinem Vater angetan, dass er mich aus seinem Leben verbannt hatte und nicht einmal mehr Zeit fand, mir einen kurzen Brief zu schreiben. Warum konnte meine Mutter mir nicht verzeihen, mich nicht endlich wieder einmal herzlich in ihre Arme nehmen und mir mit meinem Leben zu helfen. Mein Großvater konnte mir ja nicht helfen, da er in dieser Weiberwelt schlicht nichts zu sagen hatte und meine Schwester war selbst in Ungnade gefallen und konnte mich daher noch weniger unterstützen. Wir telefonierten sehr viel miteinander und meine Schwester war mir unter diesen Umständen eine sehr große Hilfe, wenn ich alleine in unserem früheren gemeinsamen Kinderzimmer im Katzenloch saß und mit der immer größer werdenden Verzweiflung kämpfte. Doch am Ende eines jeden Gespräches fühlte ich die schmerzliche Ruhe um mich herum, nicht Stille, nicht Friede, sondern Kerker und Verlies. Ich dachte an viele meiner Freunde, die an diesem Wochenende wieder mit ihren Vätern beim Fußballspiel waren, ihren Müttern beim Kochen halfen und mit ihren Geschwistern ausgelassen im Garten spielten. Konrad hatte sicher wieder einiges in seinen Hopfengärten zu tun, hatte Bäume geschnitten, fuhr mit dem Traktor aufs Feld und verbrachte daneben noch viel Zeit mit seinen Freunden am Bodensee. Meine Erlebnisse standen zumeist minutiös aufgelistet in der Fernsehzeitung.
Mit jedem Bahnhof, der mich näher nach Leutkirch brachte, hellte sich meine Stimmung spürbar auf. Manchmal stieg zum Glück auch einer meiner Klassenkameraden zu und ich war daher an den einschlägigen Bahnhöfen besonders aufmerksam, damit wir nicht in unterschiedlichen Abteilen endeten. In Leutkirch angekommen freute ich mich über den Weg ins Internat, auch wenn dieser kleine Fußmarsch mit all dem Gepäck zuweilen recht anstrengend war. Hier war nicht nur alles vertraut, es war auch mein Zuhause geworden und ich freute mich, wieder hier zu sein. Die Ankunft nach dem Wochenende war immer eine aufregende Sache. Manche waren schon früher angekommen, andere hatten gerade erst damit begonnen, ihre Koffer und Taschen auszupacken. Überall war ein hektisches Treiben, viel Lärm und all die Gesichter, die mir inzwischen so vertraut und lieb geworden waren. Es war wieder Leben im Haus, denn wir waren wieder da. Da gab es viel zu erzählen und man konnte die neuesten Errungenschaften bewundern, die da aus den Koffern zum Vorschein kamen.
Konrad war einer der Ersten, die damals einen Kassettenrekorder von einer dieser Heimfahrten mitbrachten und wir standen alle um dieses Wunderwerk der Technik und beneideten ihn, dass er sich so etwas hatte anschaffen dürfen. Auch ich konnte einmal selbst mit solch einer Attraktion aufwarten, als ich mir ein für damalige Verhältnisse sehr modernes Tonbandgerät anschaffte, für das ich in den Sommerferien mehrere Wochen in der Druckerei Maurer in Geislingen arbeitete. Zu dieser Zeit war ich eigentlich zu jung, um überhaupt arbeiten zu dürfen und so hatte ich den einen oder anderen Nachmittag frei, wenn plötzlich wieder einmal irgendwelche Beamte der Stadt den Betrieb besuchten. Auch in den folgenden Jahren verbrachte ich meine Ferien zumeist in der Fabrik oder auf dem Bau, um mir leisten zu können, was mir gerade besonders am Herzen lag. Und solch ein Tonband war damals mit das Wichtigste, da es ohne Musik einfach nicht ging.
Nachdem die letzten Tage, die wir alle getrennt voreinander verbracht hatten, dann allseits diskutiert waren, richteten wir unser Augenmerk wieder auf die folgenden Wochen und die anstehenden Ereignisse. Im Winter gab es immer viele Gelegenheiten zum Skifahren, denn der Präfekt organisierte für uns regelmäßige Fahrten ins Kreuztal. Zwar musste ich meine anfangs bescheidenen Künste erst einmal vorsichtig verbessern, aber wenn man Konrad in seinen Jeans auf den Brettern sah und ihn beobachtete, wie er die Abhänge hinunterfegte, dann war da auf einmal so viel Mut und Fatalismus in meinen Adern, dass mich auch der eine oder andere Sturz nicht davon abhalten konnte, ihm zu folgen und möglichst noch schneller unten anzukommen. Mit seiner Hilfe hatte ich bald die notwendigen Tricks und Techniken erlernt, um mit den anderen mithalten zu können und mich an den üblichen Rennen zu beteiligen, die wir untereinander austrugen. Ich glaube, dass unsere Erzieher, die uns auf diesen Ausflügen immer begleiteten, froh waren, wenn wir alle wieder ohne gebrochene Knochen im Bus saßen, um die Heimreise anzutreten.
Im Sommer durfte jedes Wochenende eine andere Klasse auf den Karlishof, der dem Fürsten von Zeil gehörte und tief in einem seiner vielen Wälder lag. Der Fürst stellte uns diesen Hof umsonst zur Verfügung, was wir ihm jedoch nicht immer so richtig dankten. Aber auch dafür schien der hohe Herr viel Verständnis aufzubringen und lud uns sogar einmal in sein Schloss ein. Ein Wochenende auf dem Karlishof begann immer damit, dass der Klassensprecher die Aufgaben auf einer umfangreichen Liste verteilte und dafür sorgte, dass sich keiner vor dem Kochen, Putzen, Spülen oder sonstigen Hausarbeiten drückte. Am Abfahrtstag trafen wir uns dann bei der Küche, wo die Ordensschwestern bereits alles für unser leibliches Wohl vorbereitet hatten. Jeder nahm sich Gurkengläser, Würste, Brote oder Getränke und gemeinsam luden wir die ganze Bevorratung in den Bus. Daneben sorgte jeder noch für seine eigene Verpflegung, wobei wir uns immer neue Tricks einfallen lassen mussten, um die verschiedenen geistigen Getränke in den Bus zu schleusen, die auf dem Karlishof eigentlich nicht erlaubt waren.
Der Hof war einige Kilometer außerhalb der Stadt in der Nähe des Dorfes Zeil gelegen. Man musste mit dem Auto durch den dichten Wald fahren, bis man schließlich den Hof auf einer Lichtung fand, die sich oben auf dem Berg befand und ringsum von dichtem Wald umgeben war. Der Hof war schlicht und einfach, wie es sehr alte Bauernhäuser eben sind und innen fand man nur wenige der ansonsten vertrauten Annehmlichkeiten. Das meiste im Haus war aus Holz gebaut worden und entsprechend knarrten die Balken und Dielen von dem Getrampel, das wir mit unserer Ankunft über das Haus brachten. Gleich nach der Ankunft wurde der Bus entladen und die Verpflegung in der Küche verstaut. Die eigene Verpflegung wurde sicherheitshalber gleich unter dem Schlafsack oder dem Bett versteckt, um jeder unliebsamen Kontrolle von Anfang an vorzubeugen. Sobald alles an seinem vorbestimmten Platz war, zogen wir ins Freie und machten die Gegend unsicher. Hier konnte man ungestört seine Träume von einem Abenteuer in der Wildnis ausleben, denn sobald man die Lichtung verließ, befand man sich im dichten Wald, dessen unbeschilderte Wege einen überall hinführen konnten. Doch wer sich gut auskannte, dem lagen allerhand geheimnisvolle Plätze zu Füßen und mit ein bisschen Glück konnte man Rehe, Füchse oder auch Hasen in diesem Wald beobachten, wie sie ihren friedlichen Geschäften nachgingen. So einfach der Karlishof auch gebaut war, so ideal war er für junge Buben geeignet, die hier für zwei oder drei Tage ganz einfach das sein wollten, was sie eben waren – junge Buben.
Einmal zog ich mit Konrad zusammen los und wir wanderten längere Zeit durch den Wald bis hinunter ins Tal. Dort fanden wir einen der vielen Fischweiher, die dem Fürsten von Zeil gehörten. Wir zogen unsere Schuhe aus und wateten langsam durch den kalten Bach, der den Weiher mit Wasser versorgte. Es war ein traumhaft schöner Sommertag und wir ließen die Kraft der grünen Wiesen und das Dunkel des Waldes auf uns wirken, setzten uns auf einen der herumliegenden Felsbrocken, ließen die Füße ins Wasser baumeln und sahen den Fischen zu, die sich da im Wasser des Baches unter den Steinen tummelten. Es war eine Zeit des inneren und äußeren Friedens und wir nutzten sie, um unsere kleinen und großen Probleme miteinander zu besprechen.
Abends würden wir dann an den Hof zurückkehren und am Lagerfeuer ein üppiges Mahl zu uns nehmen. Allein der Gedanke daran machte uns schon hungrig und Konrad entwickelte plötzlich einen Heißhunger auf Fisch. Also zogen wir los, um uns ein paar der fürstlichen Forellen zu fangen. Wir suchten uns geeignete Äste von den Bäumen, um sie zu Speeren zu machen, mit denen wir die Forellen aufspießen wollten. Da diese Tiere aber zu schlau für solch eine banale Jagdmethode waren, mussten wir selbst in den Weiher steigen. Ruhig und geduldig warteten wir, bis sich uns eine Forelle näherte und mit einer blitzartigen Bewegung warfen wir sie dann ans Land. Ich muss nicht betonen, wie viel Spaß wir dabei hatten und der Stolz in uns wuchs mit jeder Forelle, die wir auf diese Art aus dem Weiher geholt hatten. Wahrscheinlich waren wir bei unserem Fischfang dann doch zu laut gewesen, denn plötzlich hörten wir ein lautes Rufen aus der Ferne und ich erkannte sofort, dass sich uns ein ganz aufgeregter und vor allem wütender Aufseher des Fürsten näherte, der keinesfalls Gutes im Schilde führte und auch nicht in freundlicher Absicht in unsere Richtung stürmte. In aller Eile sprangen wir aus dem Wasser, griffen unsere Schuhe und den Rest unserer Kleidung, schnappten uns noch schnell die Forellen und türmten so schnell es ging in den Wald, der uns schon bald ausreichenden Schutz gab. Es war ein wahrlich fürstliches Mahl. Konrad nahm die Forellen kurzerhand aus und bereitete alles Weitere vor. Das Lagerfeuer tat dann das übrige und alle wollten ein Stück von unseren gewilderten Forellen haben. Dieser Genuss hatte zwar ein moderates Nachspiel, aber der Fürst wollte uns, ob unserer kleinen Verfehlung, nicht so recht böse sein.
Die Abende am Karlishof waren lang und es gab immer viel zu erzählen. Manchmal hatte man das Gefühl, dass dieses Feuer hier mitten im Wald eine ganz besondere magische Kraft entfaltete. Vielleicht war es aber auch nur das Gefühl, von allen Dingen des Alltags weit entfernt zu sein und sich in einem sorgenfreien Raum zu bewegen. Wie dem auch war, hier am Karlishof öffneten sich in manchen Nächten die Herzen und die Seelen selbst begannen dann zu sprechen. So manches Mal brach aus einer Seele so viel heraus, dass sich die Tränen nicht mehr zurückhalten ließen und wir dann den Arm um unseren Freund legten, uns, wenn nötig, wieder vertrugen und schließlich doch wieder zu unserem eigenen Proviant griffen. Bald waren alle dicht um das Lagerfeuer versammelt und wir spielten Gitarre, sangen Lieder und labten uns an Bier und sonstigen geistigen Getränken. Außer Rehe und Hasen konnten wir ja niemanden stören und so kannte die Ausgelassenheit schon bald keine Grenzen mehr.
Zu einem dieser Abende brachte Konrad einen Vorlauf mit, den er von der eigenen Schnapsbrennerei abgezweigt hatte. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Wirkung dieses Teufelswasser auf uns hatte und es gab außer einer guten Stimmung später kaum einen, dem es nicht unchristlich schlecht wurde. Den Höhepunkt erreichten wir dann in den frühen Morgenstunden, als sich unser Schlafsaal plötzlich zu drehen begann und auch mir nichts anderes mehr übrig blieb, als das offene Fenster zu suchen, welches der einzig helle Punkt im Raum war. Offensichtlich hatte der gute Kalbi wohl genau zur gleichen Zeit einen ähnlichen Gedanken und, da er vor mir am Fenster war, musste ich mich auf seine Schultern stützen, um meinem Magen die ersehnte Möglichkeit zu geben, den verbliebenen Rest des Vorlaufs in die freie Natur zu befördern. Der nächste Morgen war grauenvoll und so mancher wollte gar nicht mehr leben. Der Blick in unseren Schlafsaal musste dem Sam, der als Erzieher mit uns kam und ohnehin sehr zart besaitet war, das nackte Grauen eröffnet haben. Jedenfalls setzte er sich ganz entsetzt mitten unter uns und begann über die Folgen des zügellosen Alkoholkonsums zu philosophieren. Es war ein Bild für die Götter. Der gute Sam mit seinen langen Haaren, die ihm bis weit über die Schultern reichten und die er passend zu seinem Vortrag immer wieder durch die Finger gleiten ließ und um ihn herum ein Bild der Zerstörung, der völligen Apathie und all den ratlosen Blicken der Opfer, die von dem, was der gute Sam da zu sagen hatte, weder akustisch, noch inhaltlich auch nur ein Wort verstanden. Aber er mühte sich redlich, uns zu überzeugen. Doch auch dem besten Missionar vergeht ab einem bestimmten Punkt die Lust am Missionieren. Dieser Punkt war für Sam gekommen, als die erste Schnapsleiche mitten in seinem Vortrag in die Runde fragte, ob es wohl noch Bier gab. Völlig zerknirscht stand der Sam auf und verließ mit leisem Gemurmel den Raum. Zuhause im Internat erwartete uns ein gesegnetes Donnerwetter, doch auch der Präfekt konnte nun nicht mehr verhindern, dass wir von unseren wilden Jahren eingefangen und mitgerissen wurden.
Es war spannend älter zu werden und all die Dinge zu erleben, die uns das Leben nun mit jedem neuen Tag schenkte. Wir dachten nur selten über die Folgen oder gar den Sinn nach, wenn wir uns Hals über Kopf in etwas Neues stürzten, denn wir lebten mit der inneren Überzeugung, dass uns das Leben nur Gutes anbieten würde. In gewisser Weise war das ja auch so, denn alles, was sich uns in den Weg stellte, räumten wir weg, machten es passend oder liefen einfach um das Problem herum. Wenig ahnten wir, dass diese Stärke, die unser damaliges Leben umgab, aus der Gemeinschaft kam, in der wir lebten. Doch diese Gemeinschaft, mit all ihren Freundschaften, konnte nicht für immer andauern, denn hier in Leutkirch konnten wir nur bis zur neunten Klasse bleiben und danach würde sich das, was wir als Gemeinschaft erlebt hatten, für immer auflösen. Wir hatten uns in den vergangenen Jahren alle sehr stark verändert, denn aus den verspielten Buben, waren mit der Zeit junge Individuen geworden, die nun danach trachteten, endgültig Mensch zu werden und ihr Leben selbst zu bestimmen. Wir hatten viel gelernt in diesen Jahren und doch nur wenig verstanden, denn noch immer war uns nicht klar genug geworden, wer wir eigentlich wirklich waren. Unsere Rolle in dieser engen Gemeinschaft war uns Hilfe und die Krücke, die wir so dringend nötig hatten, um die Zeiten der Veränderung in Schutz und Geborgenheit zu durchleben und zu überstehen, ohne uns dabei allzu viele Wunden und Verletzungen zu holen, die uns für den Rest unseres gerade begonnenen Lebens begleitet hätten. Doch wir waren auch nicht das, was wir in unserer Rolle gespielt hatten, denn in der Gemeinschaft konnten wir unser Gepäck und unsere Lasten vor dem Haus verstecken, um für eine kurze Zeit nicht weiter unter dem Gewicht zu leiden. An dem Tag jedoch, an dem wir dieses Haus verlassen würden, war es unsere Pflicht, all diese Lasten wieder auf uns zu nehmen und diese so lange mit uns durch das Leben zu tragen, bis wir endlich finden würden, wonach wir schon immer gesucht hatten. Der Präfekt wusste das und es war bestimmt kein Zufall, dass er uns anbot, uns zumindest für eine kurze Zeit den Exerzitien zu unterziehen, um mit dieser für uns so wichtigen Suche zu beginnen. Wieder war es sein Anliegen, Ruhe in unsere aufgewühlten Seelen zu bringen.
Konrad und ich meldeten uns sofort zu diesen Exerzitien an, auch wenn wir uns zunächst nicht sehr viel unter diesem Wort vorstellen konnten. Auf der anderen Seite klang es verlockend, dass diese Exerzitien nicht in Leutkirch, sondern im Kloster Marchtal in der Nähe von Ehingen stattfanden und dies eine willkommene Reise mit sich brachte. Uns interessierte damals einfach alles und der Gedanke, einige Tage in einem Kloster zu verbringen, war eben ausgesprochen reizvoll. Zusammen mit einigen unserer Klassenkameraden fuhren wir dann ins Kloster Marchtal und wurden dort freundlich empfangen. Schon beim Betreten des Gebäudes konnte man die Ruhe förmlich spüren, die über diesem Ort lag. Es war ein friedlicher Ort, der nach Respekt und Anstand verlangte. Nach der Begrüßung führte man uns in unsere Zimmer, in denen sich außer einem Bett, einem Stuhl, einem kleinen Tisch und einem Schrank nichts befand, was uns von dem eigentlichen Zweck unseres Hierseins hätte ablenken können.
Wir packten unsere Sachen aus und da noch Zeit bis zum Abendessen war, saßen wir in kleinen Gruppen in unseren Zimmern zusammen und überlegten uns, wie sich die nächsten Tage hier wohl gestalten würden. So ganz ohne Musik und all die anderen Dinge, die unser tägliches Leben ansonsten so eng begleiteten, kam bei den meisten von uns schon bald nach unserer Ankunft ein Gefühl der Langeweile auf, was durch den Umstand, dass es in diesem Haus ungewohnt ruhig war, nur noch verstärkt wurde. Wir waren daher ganz erleichtert, als die Zeit zum Abendessen gekommen war und wir uns aus den weiß getünchten Zellen hinaus auf den Gang bewegen konnten, der allerdings genau so weiß war, wie die Zimmer. Bevor es zum Abendessen ging, trafen wir uns noch alle zu einer kurzen Einführung, bei der uns der Ablauf der folgenden Tage erklärt wurde und man uns auf einige der hier im Hause zu beachtenden Regeln hinwies. Besonders überraschte uns, dass über lange Zeiten unseres Aufenthaltes absolut nichts gesprochen werden durfte und, um uns so bald wie möglich daran zu gewöhnen, begann das erste große Schweigen gleich nach dem Abendessen und sollte bis zur ersten Veranstaltung dauern, die dann am nächsten Morgen nach dem Frühstück stattfand.
Mit einem einfachen Hinweis, uns ab sofort in Schweigen zu üben, verstummte der Raum und wir sahen uns in diesem Augenblick sichtlich verblüfft und ungläubig an. Vor uns stand die gleiche Person, wie noch vor wenigen Minuten, doch was sollten wir nun miteinander tun, so ganz ohne Worte. Langsam verließen wir den Saal und versuchten uns dabei zunächst noch mit einfachen Handzeichen zu behelfen. Je weiter wir jedoch durch die langen Gänge des Klosters gingen und der Klang unserer Schritte immer lauter wurde, umso weniger war mir bewusst, wohin ich eigentlich gehen wollte. Es war noch viel zu früh am Abend, um mich schlafen zu legen und mich zusammen mit Konrad in ein Zimmer zu setzten, um uns dort stumm in die Augen zu starren, erschien mir gleichermaßen absurd. Mein Weg führte mich zurück in mein Zimmer. Dort saß ich alleine auf meinem Stuhl und suchte den Raum ab, während mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf gingen. Die Ruhe war beängstigend und fühlte sich ganz anders an wie sonst, wenn ich alleine war. Ich war ja nicht alleine, denn alle meine Freunde waren irgendwo in diesem Kloster oder sogar im nächsten Zimmer und doch waren sie in diesem Moment unerreichbar für mich. Ich entschied mich, einen kurzen Spaziergang durch den Garten zu unternehmen. Auf meinem Weg begegneten mir einige meiner Freunde. Als wir uns im Garten näherkamen, blickten wir uns kurz in die Augen und gingen dann wie Gespenster aneinander vorbei. So viele Worte lagen mir in diesen Momenten auf der Zunge, doch keines davon hätte jetzt einen Sinn gemacht.
In den folgenden Tagen verbrachten wir die meiste Zeit in diesem Schweigen, das uns, zu unserer Überraschung, sehr bald zur Gewohnheit wurde. Nur in manchen gemeinsamen Veranstaltungen durften und sollten wir sogar reden. In vielen der Meditationsstunden waren wir nur Zuhörer und nahmen auf, was da an Ideen vor uns ausgebreitet wurde. Das Schweigen machte es dem oft heftig aufflammenden Widerspruch aber unmöglich, sich in Szene zu setzen und Geltung zu verschaffen. Statt dessen sanken die Ideen langsam in uns hinein, um dort in aller Ruhe verdaut zu werden. Nach wenigen Tagen bemerkte ich, dass ich nun alleine in meinem Zimmer sitzen konnte, ohne Langeweile und ohne das anstrengende Durcheinander meiner Gedanken. Die Ruhe, das Schweigen und die Einfachheit der gesamten Umgebung, verdrängten die Macht der ansonsten so dominanten Sinne und gaben den Weg frei für das Erleben und Empfinden. Meine Spaziergänge unternahm ich oft zusammen mit Konrad und, obwohl wir dabei kein einziges Wort sprachen, erfuhren wir sehr viel über uns und unsere Freundschaft. Die Nähe zu einem Menschen kann man nicht herbeireden, Worte eignen sich nicht zum Verständnis, denn Zuneigung und Harmonie müssen gefühlt und erlebt werden, um sich im Leben als tragfähiges Fundament zu erweisen. Diese Tage im Kloster Marchtal haben mich tief geprägt und mir in den vielen Jahren, die auf diese Exerzitien folgen sollten, die Kraft gegeben, auch schwierige Stunden mit Anstand hinter mich zu bringen und selbst am Abgrund noch immer das Licht am Horizont zu sehen. Die lebenslange Suche nach meiner eigenen Identität und dem Grund meines Hierseins, bekam in diesen Tagen entscheidende Kräfte zur Seite gestellt, ohne die ich wohl schon kurze Zeit später aufgegeben hätte. Es war hier im Kloster Marchtal, dass ich mich zum ersten Mal nicht einfach in meinen Träumen verlor, sondern mich und mein Leben aus der Distanz des Inneren sehen konnte, mit den Augen des Jungen, der mit so großen Erwartungen damals über den See ins Katzenloch gekommen war und sich nun hier in der Stille dieses Hauses wiedergefunden hatte.
Unsere Zeit in Leutkirch neigte sich nun dem Ende zu und wir alle waren sehr damit beschäftigt, uns auf das Landexamen vorzubereiten, das wir unbedingt bestehen mussten, um in eines der weiterführenden bischöflichen Konvikte aufgenommen zu werden. Unsere Tage waren daher mehr als sonst mit dem Studium und der umfangreichen Vorbereitung auf diese Prüfung ausgefüllt, was jedoch nicht verhindern konnte, dass sich so langsam ein wehmütiges Gefühl unter uns breitmachte. Oft saß ich an meinem Pult, wenn sich mein Blick wie von selbst von dem Lateinbuch abwandte und ich dann durch das große Fenster des Studiersaals auf den Fußballplatz hinausblickte und mir all die Erinnerungen wieder gegenwärtig wurden. Es würde nie wieder so sein wie jetzt und alles, was wir hier zusammen erlebt hatten, würde schon bald im Nebel des Vergessens versinken. Vielleicht würden nur meine kaputten Zähne, die mir der Albert beim Fußballspiel versehentlich ausgeschlagen hatte, die einzige reale Erinnerung bleiben. Ich bestand das Landexamen und zusammen mit Konrad meldete ich mich für das Konvikt in Rottweil an, da eine Rückkehr nach Geislingen für mich nie zur Überlegung stand. Unsere Klasse löste sich jetzt auf, denn wer sich nicht für eine Rückkehr ins Elternhaus entschied, fand einen Platz in einem der verschiedenen Konvikte. Nach unserem Examen fuhren wir alle noch zusammen nach Raggal in Österreich, um dort einige Tage auszuruhen und natürlich, um unsere gemeinsamen Jahre noch einmal zusammen zu durchleben und schließlich zu einem Ende zu bringen.
In den letzten Wochen vor den Sommerferien hatte ich sehr viel Zeit und ich saß gerne am Fenster im obersten Stock und blickte hinunter auf den Vorplatz, auf dem sich nun die jüngeren Buben tummelten. Für sie hatte gerade begonnen, was für mich nun zu einem traurigen Ende kam. Ja, es war traurig, denn zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich zu Hause, gewollt, denn ich hatte viele Freunde und nun den Wunsch, für immer hier bleiben zu dürfen. In all den Jahren, die ich hier verbrachte, lebte ich beschützt und umsorgt, hatte nie Angst um mich selbst gehabt und öffnete so viele Türen, die mich der Kunst und dem Denken nahe gebracht hatten. Ich hatte mich nach meinem Sturz wieder gefangen und mit der helfenden Hand, die mir so oft gereicht wurde, war ich heute in der Lage, aufrecht zu gehen. Ich war aus tiefem Herzen dankbar für diese Jahre und trage auch heute diesen Dank noch immer in mir. Doch damals mischte sich auch die Angst unter meine Gefühle, denn ich wusste nicht, was mich in diesem Rottweil erwarten würde. In jedem Falle würde auch Konrad dort sein. Unsere Freundschaft war mir in diesen Jahren so sehr Halt und Sicherheit geworden, dass ich die quälenden Gedanken an die Zukunft bald zur Seite schob und damit begann, mich auf dieses neue Kapitel meines Lebens zu freuen.