schneeraben.de - Philosophische Reisevorbereitungen von Thomas H. Jäkel

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Das Skriptorium

 

 

Schleichender Zerfall

von Thomas H. Jäkel

 

 

In den ersten Jahren dieses Jahrtausends, von dem wir uns alle sicherlich vieles erwartet haben, hat sich in aller Stille eine ganz andere Entwicklung abgezeichnet, die gegen unser allzu subjektives Empfinden steuert und daher bisweilen kaum in ihrer ganzen Tragweite gesehen wird. So haben diese Jahre nicht nur neue Kriege und Terror in unsere Wohnzimmer gebracht, sondern auch das ganze Repertoire vom Hunger bis zum Völkermord. Dagegen scheinen viele andere Entwicklungen, wie gescheiterte Renten- und Sozialsysteme, schon geradezu von untergeordneter Bedeutung zu sein. Überschattet von diesen Ereignissen hat sich aber auch der Zerfall der westlichen Demokratien weiter ausgebreitet und zu einer ernsthaften Erosion der eigentlichen Basis dieser Systeme geführt. Dieser Zerfall wird in seiner Folge zu einer globalen Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Systeme führen. Die Grundlagen hierfür wurden bereits vor langer Zeit gelegt und es mag daher auch überraschen, dass diese Wurzeln ihre Kraft aus unserer eigenen Psyche beziehen.

 

Der moderne Mensch hat die beachtliche Fähigkeit entwickelt seine Umwelt und vor allem sein eigenes Dasein so selektiv wahrzunehmen, dass ihm alle negativen Aspekte seines Lebens möglichst verborgen bleiben, zumindest jedoch so schnell wie möglich relativiert oder verdrängt werden, denn nichts ist dem Menschen so suspekt, wie seine eigene Existenz. Universelle Werte, wie sie von Plato propagiert wurden, sind genau so in den Hintergrund unseres Denkens gedrängt worden, wie die von einem Maximilien Robespierre verfochtenen Menschenrechte und hier vor allem der Gedanke der Freiheit. Der Grundgedanke der Demokratie und die damit zwingend einhergehende Idee der Gedankenvielfalt, der Individualisierung und der dem Individuum ureigen anhaftenden Freiheit, sich nach seinen ihm eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, wird keineswegs nur dadurch erfüllt, dass sich eine Gesellschaft freie Wahlen verordnet. So denkt der Geist der Demokratie auch nicht in bunten Farben wie schwarz, rot, grün oder gelb, sondern strebt nach Werten und deren Realisierung zum Wohle der Gemeinschaft. Um zum Leben zu erwachen bedarf die Demokratie als Ausdruck des Willens nicht der Wählerstimmen und auch nicht der politischen Parteien, sondern in erster Linie eines treibenden Geistes, der von der einzig immanenten Kraft, dem homo politicus, geschaffen wird. Ohne diese Basis verkommt die Demokratie zur bloßen Organisationsform und zum Instrument politischer Beeinflussung der Massen. In einem solchen Zustand entstehen Klassengesellschaften unter dem Deckmantel der Demokratie, die sich damit selbst ad absurdum führt.

 

Eine vom ARD im November 2006 veröffentlichte Umfrage ergab, dass immerhin 51% der Befragten mit der Demokratie im Lande unzufrieden waren und darüber hinaus ganze 66% die deutschen Verhältnisse als ungerecht empfanden. Der EU Durchschnitt liegt gerade einmal bei 56% und in Frankreich sind nur noch 45% der Befragten mit der Demokratie zufrieden. Auch George W. Bush erhielt vom amerikanischen Volk nach einer Umfrage des Magazins Newsweek im gleichen Zeitraum gerade noch 31% Zustimmung für seine Politik und Tony Blair liegt etwa in der gleichen Bandbreite. José Maria Aznar musste seinen Posten schon im Jahre 2004 räumen, da er den Willen des spanischen Volkes ignorierte und junge Demokratien, wie hier in Thailand, zeigen ein ganz verwegenes Bild, wenn es um die Erhaltung der demokratischen Freiheiten geht, denn die Begrüßung eines Militärputsches mit Rosen und Girlanden mag vielleicht ein schönes Bild im nächtlichen Bangkok abgegeben haben, doch hat die Bevölkerung damit auch das Ende der ihr ansonsten wichtigen demokratischen Rechte gefeiert. Auch im Irak will die Demokratie trotz landesweiter Wahlen nicht so recht Wurzeln schlagen und der Traum von einem demokratischen Irak ist weiter entfernt als je zuvor. Liegt es an der Idee der Demokratie, haben wir eine globale Führungskrise oder haben wir ganz einfach das Interesse daran verloren?

 

Interessanterweise ist diese Fragestellung nicht ganz neu und sie wurde bereits von Erich Fromm in Werken wie „Escape from Freedom“ und „The Fear of Freedom“ ausführlich diskutiert. Darin sieht Fromm eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich die Menschen insgesamt eher zu autoritären Systemen hinwenden werden, da das Individuum die mit der Freiheit verbundenen Gefahren und Verantwortungen ganz einfach nicht übernehmen will. Doch politische und gesellschaftliche Systeme fallen nicht vom Himmel, sind damit auch nicht unveränderlich, sondern ein Produkt der jeweiligen Kräfte und vor allem dessen, was jeder Einzelne zulässt oder nicht. So ist die schweigende Masse der eigentliche Feind der Demokratie geworden. Ist die Unzufriedenheit mit der Demokratie oder den gerade amtierenden politischen Persönlichkeiten dann eher eine Kritik am System, an der Person oder eher ein Ausdruck der individuellen Angst und Sorge um die eigene Zukunft?

 

Der Zusammenbruch des mittelalterlichen Feudalsystems führte unweigerlich zu einer Auflösung starrer Gesellschaftsstrukturen. Die Menschen waren nun frei und konnten unabhängig denken und handeln. Im gleichen Zuge gingen jedoch auch gewohnte Sicherheiten und vielfältige soziale Bindungen verloren. Während diese Veränderungen zu einer der kreativsten Perioden Europas führten, namentlich der Renaissance, muss aber auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Menschen in zunehmendem Maße in eine gesellschaftliche Isolation und damit in ein Gefühl der Hilflosigkeit verfielen. Die Entwicklung kapitalistischer Systeme hat diese Aspekte nur weiter vertieft, auch wenn sich der Einzelne heute frei und sehr wohl ungebunden fühlen mag. Ob dieses Gefühl der Realität entspricht, mag mit Erich Fromm bezweifelt werden, denn der Geist der gesamten Kultur wird in jeder Gesellschaft von den einflussreichsten Gruppen bestimmt. Dies ist schon deshalb so, weil diese Gruppen die Macht haben das Ausbildungssystem, die Schulen, die Kirche, die Presse oder die Kunst zu kontrollieren und der ganzen Bevölkerung ihre Sicht der Dinge aufzuerlegen. Darüber hinaus tragen diese Gruppen so viel Ansehen, dass vor allem die niedrigeren Klassen mehr als bereit sind, diese Ideen anzunehmen und deren Werte zu imitieren, um sich letztlich mit diesen Gruppen selbst zu identifizieren.

 

Ausgesprochen interessant sind auch die Gedanken eines Neil Postman in seinem bemerkenswerten Buch „Amusing ourselves to Death“ und die dort zu findenden direkten Verweise auf Aldous Huxley und George Orwell. So fürchtete letzterer diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley hingegen befürchtete, dass es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will. Orwell fürchtete jene, die uns Informationen vorenthalten. Huxley fürchtete jene, die uns mit Informationen so sehr überhäufen, dass wir uns vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiegelung retten können. Orwell befürchtete, dass die Wahrheit vor uns verheimlicht werden könnte. Huxley befürchtete, dass die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen könnte. Er fürchtete die Entstehung einer Trivialkultur und schreibt in „Brave New World Revisited“, dass die Verfechter der bürgerlichen Freiheiten und die Rationalisten, nicht berücksichtigt haben, dass das Verlangen des Menschen nach Zerstreuung fast grenzenlos ist. Die Parallelen werden unschwer klarer.

 

Der heutige Mensch sieht sich zunehmend ohnmächtig gegenüber den Vorgängen, die sein Leben bestimmen. Hat er sich wirklich von den feudalen Strukturen des Mittelalters befreit oder wurden diese Strukturen letztlich nur durch eine Illusion ersetzt, die den Einzelnen in einer ähnlichen oder gar größeren Abhängigkeit belassen? Die moderne Gesellschaft sieht die Sinnfrage und ein individuelles Leben nicht mehr als Stärke, sondern als Schwäche, als esoterisch und unpassend für das Bild des jungen und dynamischen Menschen, der seine Leistungsfähigkeit nur noch in einem Zeitfenster zwischen 25 und 50 Jahren einbringen kann. Unsere Ziele sind materielle Werte, die mehr durch die Kaufkraft und Leistungsfähigkeit als durch Wertigkeiten geprägt sind. Der Einzelne muss sich diesen Anforderungen in jedem Falle unterordnen, sich einfügen und sein Leben danach ausrichten, um diesem Bild zu entsprechen. So verformen sich auch individuelle Entscheidungsvorgänge bewusst oder unbewusst in Bemühungen zur Erreichung dieses gesellschaftlich propagierten Zieles und aller Erwartungen, die davon ausgehen. Die Angst geht um und man arbeitet heute nicht mehr „beim Daimler“, denn die Treue und Beziehung zur Firma hat heute keinen Wert mehr. Der moderne Mensch muss sich anbieten, produktiv und vor allem passend sein. Dabei verliert er die beste seiner Qualitäten: seine Individualität.

 

Angesichts einer fortschreitenden Qualifizierungen der Bevölkerung in Zielkunden, Wählerpotenziale und Arbeitseinheiten, entwickelt sich eine sehr ernst zu nehmende Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen der Demokratie und als Folge davon der Rückzug in die Privatsphäre, denn mehr als zuvor empfindet der Mensch in unserer Zeit seine Isolation und Machtlosigkeit. Politische Parteien sind schon lange kein geeigneter Nährboden für neue Ideen und Veränderungen, sondern zeigen sich als undurchschaubare Machtapparate, die nach Erhalt der Wählergunst sofort jegliche Verbindung zur Basis verlieren. Aber auch unsere Unternehmen sind kein Teil der Gesellschaft mehr, da sie sich heute nur noch an globalen Zielen orientieren, bei deren Realisierung die Menschen der eigenen Region mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Die Distanz wird immer größer und unsere modernen Gesellschaften entfernen sich zunehmend von den Menschen, die in ihnen leben. Statt dessen und wohl als Ausgleich gedacht, werden Produkte geschaffen, die man haben muss, aber nicht braucht. Man wird mit Fernsehkanälen und Filmen überhäuft, hat 24 Stunden Nachrichten aus aller Welt als Ergänzung zu unzähligen Zeitungen und Zeitschriften. Wellness, Computerspiele und das Internet tun ihr Übriges, um uns die Zeit zu füllen und von Fakten wie zunehmender Verarmung, Arbeitslosigkeit und einer völlig gescheiterten Finanzpolitik abzulenken. Man muss als Politiker schon Ideen haben, wenn man jährlich über 80 Milliarden Dollar in den Irak Krieg pumpt und den Menschen zuhause weder eine ausreichende Schulausbildung, noch eine umfassende Krankenversicherung anbieten kann. Haben die Politiker und die Unternehmen als Oberschicht wieder die Rolle der Feudalherren übernommen?

 

Alte wie junge Demokratien können nicht ohne eine aktive Beteiligung der Bürger leben und existieren. Entfällt die Beteiligung und die Anteilnahme, dann ist dies auch das Ende der Demokratie. Wie weit wir uns schon den Befürchtungen eines Aldous Huxley oder George Orwell genähert haben, ist erstaunlich und zugleich erschreckend. In der Tat ist auch Erich Fromm darin zu folgen, dass diese subtilen Methoden der Verdummung für unsere Demokratien gefährlicher sind, als alle direkten sonstigen Angriffe, die wir alle so fürchten. Eine täglich anwachsende Informationsflut und die weitreichenden Wirkungen der Werbung, wie auch der politischen Propaganda, erhöhen dabei nur das Gefühl der Isolation und der Unwichtigkeit des Einzelnen. Auch die in der Politik übliche Wiederholung von Slogans und Fakten, die mit der Sache nichts zu tun haben, verringern die kritische Kapazität der Bürger. Doch Isolation und ein Gefühl der Unwichtigkeit führen nur zur Gleichgültigkeit gegenüber dem System. Die Menschen sind damit für eine gewisse Zeit zwar einfacher zu managen oder zu regieren. Auf lange Sicht verlieren die Politiker, wie auch die Unternehmen, jedoch ihre Basis und damit zwangsläufig die Legitimation ihrer eigenen Existenz. Dies sollte allen Beteiligten zu denken geben, bevor wir all dies in andere Teile der Welt exportieren.