schneeraben.de - Philosophische Reisevorbereitungen von Thomas H. Jäkel

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Das Skriptorium

 

 

Überheblichkeit, Arroganz, Gier

von Thomas H. Jäkel

 

 

Menschen haben zu allen Zeiten Strategien für kritische Situationen entwickelt und in unserer Zeit sind es vor allem die Beratungsunternehmen, die mit solchen Strategien den Erfolg der von ihnen betreuten Unternehmen sicher stellen wollen. Die Schriften von Sun Tzu stehen jedoch nicht nur in einer typisch chinesischen Tradition, die sich in ihren Bemühungen zur Erfassung der Weisheit des Lebens auch im „Tao Te Ching“ eines Lao Tse, sowie in den umfangreichen Schriften eines Konfuzius wiederfindet. Sun Tzu’s „Die Kunst des Krieges“ hat es über zwei Jahrtausende geschafft, die führende Schrift in Militärakademien der Welt zu sein. So hielt das bereits 400 vor Christus geschriebene Werk im Jahr 716 nach Christus Einzug in Japan und weitere 1000 Jahre später in Europa und natürlich in Russland. Vor allem in Japan und vielen Ländern Asiens ist „Die Kunst des Krieges“ nicht nur ein Klassiker, sondern eine Pflichtlektüre geworden. Doch Sun Tzu’s Einfluss auf das chinesische Denken erstreckt sich weit über die militärische Philosophie eines Mao Zedong hinaus und wurde ein integraler Bestandteil der bedeutendsten wirtschaftlichen Entwicklung des späten 20. Jahrhunderts: die Öffnung Chinas. In der Tat gleichen sich wirtschaftliche und militärische Interessen und das chinesische Sprichwort: „Der Marktplatz ist ein Schlachtfeld“ spricht für sich selbst. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Sun Tzu’s Strategien schon lange Einzug in die Führungsetagen asiatischer Konzerne gefunden haben.

 

Nun könnte man annehmen, dass chinesische Klassiker per se nicht gerade zur Primärlektüre eines modernen Managers gehören und dies schon gar nicht, wenn diese Schriften über 2000 Jahre alt sind. Anders könnte sich die Situation natürlich darstellen, wenn man weiß, dass ein solches Werk durchaus auch heute noch als zeitgemäß betrachtet werden kann und darüber hinaus einen essenziellen Teil des geistigen und kulturellen Fundaments gesellschaftlicher Systeme darstellt, die etwa ein Drittel der Weltbevölkerung umfassen. Ein solches Werk stellt „Die Kunst des Krieges“ von Sun Tzu (Sun Tzu Bing-Fa) dar. Beim geneigten Leser mag dieser Titel jedoch zunächst Assoziationen allzu trockener Kriegsstrategien, Formationen und militärischer Details hervorrufen und sich daher bevorzugt als Lektüre für lange und kalte Winterabende anbieten. Ausgesprochen interessant und auch gewinnbringend wird die Lektüre jedoch, sobald man Sun Tzu einmal aus dem militärischen Kontext löst und zum Gegenstand alltäglichen Verhaltens in Beruf, Politik und Gesellschaft macht und damit in die Welt integriert, in der wir alle nicht nur überleben, sondern letztlich erfolgreich sein wollen.

 

Ein zentraler Punkt der Lehre ist nicht etwa das strategische Vorgehen in einer Schlacht, sondern das Verhindern derselben. Damit legt Sun Tzu den Grundstein für eine globale Strategie, denn die höchste Kunst ist den Widerstand des Feindes ohne Kampf zu brechen. Das zugrunde liegende Ziel ist die Eroberung eines in sich intakten Feindes und all seiner Ressourcen. Der beste Feldherr unterwandert daher auch zunächst die Strategie des Feindes, zerstört im zweiten Schritt dessen Allianzen und wählt erst dann den direkten Angriff, wobei natürlich die Belagerung befestigter Stellungen die schlechteste aller Vorgehensweisen ist. Diese Strategie ist im chinesischen Denken deshalb so wichtig, weil die Existenz der Konfrontation und in seiner letzten Konsequenz des Krieges, als etwas Normales und nicht als Ausnahmefall angesehen wird. Daher ist die Kriegsführung von entscheidender Wichtigkeit und eine Angelegenheit von Leben und Tod, eine Straße in die Sicherheit oder den Ruin. Japan gehört zu den eifrigsten Anhängern chinesischer Weisheit. Japan hat aus der Invasion in China und Taiwan im Jahre 1874 genau so wie aus den Folgen des Zweiten Weltkrieges ihre Schlüsse gezogen und sich an das chinesische Motto: „shang chang ru zhan chang“ – der Marktplatz ist ein Schlachtfeld - erinnert. So hat die beharrliche Anwendung der genannten Prinzipien und Strategien wesentlich dazu beigetragen, dass Japan die militärische Niederlage überwunden und sein nationales Überleben durch einen sensationellen wirtschaftlichen Erfolg gesichert hat - ohne Armee und ohne Krieg.

 

Schlachten werden aus Weisheit vermieden und nicht aus pazifistischen Gründen. Die Konfrontation ist gegenwärtig und der Wille zum Sieg über den Feind bleibt ungebrochen. Direkte Konfrontationen führen nicht nur in militärischen, sondern auch in wirtschaftlichen Auseinandersetzungen in der Regel zu hohen Verlusten und dies vor allem, wenn die eigene Streitkraft dem Gegner unterlegen ist. Daher gilt es den Gegner zu führen und ihn so zu lenken, dass die eigenen Schwächen nicht zum Tragen kommen. Hierbei zielt Sun Tzu dann auf ganz menschliche Eigenarten, die sich offensichtlich über die letzten 2000 Jahre kaum geändert zu haben scheinen. Zu diesen Eigenarten gehören Überheblichkeit, Arroganz, Gier oder auch andere menschliche Züge, die geeignet sind, die Entscheidungsfähigkeit zu trüben oder einseitig zu beeinflussen.

 

„Man stelle dem Feind einen Vorteil in Aussicht und er wird sich nähern.“ Wer in China tätig ist, wird sich sicherlich an die vielen vermeintlichen Vorteile erinnern, die einem da von chinesischer Seite angeboten werden. Gerade bei chinesischen Ausschreibungen ist es nicht unüblich, dass man jedem Anbieter gleichzeitig und „unter dem Mantel der Verschwiegenheit“ mitteilt, dass ein bestimmter anderer Anbieter wohl den Zuschlag erhalten werde. Ein geschickter Schachzug, denn kein Anbieter weiß nun, ob er noch nachlegen soll oder nicht. Die Folge ist ein erneuter Preiskampf, den in jedem Falle die chinesische Seite gewinnen wird. Diese Kunst der Täuschung hat in China Geschichte und fügt sich nahtlos in die Lehre eines Sun Tzu ein. „Oh du göttliche Raffinesse und Heimlichkeit! Durch dich lernen wir unsichtbar zu sein, durch dich können wir nicht gehört werden und so halten wir das Schicksal des Feindes in unseren Händen.“ Eine der Schwierigkeiten, die es in China für einen Ausländer zu überwinden gilt, sind Entscheidungswege. Allzu oft verhandeln Chinesen nicht direkt, sondern durch eine dritte Person, die jedoch an der eigentlichen Entscheidung nicht beteiligt ist. Und selbst wenn man sich dem inneren Zirkel einmal nähert, weiß man noch immer nicht genau, wer nun der Wichtigste im Gremium ist. Auf diese Weise bleibt man für den Gegner immer unsichtbar und jedes Gremiumsmitglied kann seine eigene Geschichte zum Besten geben. Die tatsächlichen Beweggründe bleiben bis zuletzt im Dunkeln.

 

„Wenn wir nicht kämpfen wollen, dann können wir den Feind ganz einfach dadurch abhalten, indem wir ihm etwas Merkwürdiges oder Unerklärliches in seinen Weg werfen.“ Diese Taktik wird in allen möglichen Formen praktiziert und dies nicht nur im Geschäftsleben, sondern auch in der Politik. Schon mancher Manager fand sich nach Monaten intensiver Akquisition plötzlich mit Regelungen oder auch neuen Aspekten konfrontiert, die ihn schlichtweg nur noch ins Erstaunen setzen konnten. Der Grund mag darin liegen, den Anbieter zu beschäftigen oder aber nur Zeit zu gewinnen, um sich mit einem anderen Anbieter näher beschäftigen zu können. In jedem Falle behält man die Oberhand in den Verhandlungen, wenn die andere Seite immer reagiert und keine Chance bekommt selbst zu agieren. „Wenn wir die Eigenarten des Feindes erkennen und selbst unsichtbar bleiben, dann können wir unsere Kräfte konzentrieren und der Feind muss seine Kräfte aufteilen.“ Chinesen studieren ihre Verhandlungspartner bis ins Detail und versuchen jede Eigenart frühzeitig zu erkennen. So leiden auch politische Verhandlungen darunter, dass die Chinesen augenscheinlich endlos Zeit haben und die Verantwortlichen sich auch nicht alle vier Jahre einer Neuwahl zu stellen haben. Kennt man seinen Feind und dessen intime Probleme und Sorgen, dann ist es ein Leichtes neue Schauplätze zu eröffnen, Rauchkerzen zu zünden und den Gegner so auf allen Fronten zu beschäftigen, dass er sich nur schwer mit den eigentlichen Themen beschäftigen kann.

 

„Wiederhole nicht die Taktik des letzten Sieges, sondern wähle deine Methoden nach der endlosen Vielfalt der Umstände.“ Immer dann, wenn man meint, man hätte nun schon alles gesehen, übertreffen sich asiatische Verhandlungspartner immer wieder selbst. Bing-Fa Weisheiten wurden von hunderten von Generationen in die Praxis umgesetzt und sind daher tief mit dem Gefüge hiesiger Gesellschaften und den wirtschaftlichen und politischen Strukturen verwoben. Asiaten spielen das Bing-Fa Spiel ohne je müde zu werden und dies vor allem, wenn es dabei etwas zu gewinnen gibt. Da werden Falschheiten offen zu Tage getragen und die wahren Fakten verschleiert, man lässt den Gegner arbeiten, während man sich vergnügt, man gibt sich unwissend und dumm, obwohl man bereits alles verstanden hat und vor allem schafft man immer wieder heftige Emotionen, da Wut und Ärger der beste Garant für Kontrollverlust sind. Dabei werden grundsätzlich fünf konstante Faktoren beachtet, die in jede taktische Überlegung einbezogen werden müssen. Diese sind das moralische Gesetz, der Himmel, die Erde, der Befehlshaber und natürlich Methode und Disziplin. Hierbei geht es nicht um die Moral des Handelns, sondern um die Einigkeit zwischen dem Führer und dessen Armee und die Frage, ob die Soldaten ihrem Führer bedingungslos folgen. Dies ist für die konsequente Ausführung jeder Strategie von elementarer Bedeutung. Weitere Planungsebenen sind Himmel und Erde und damit das Terrain und die spezifischen Bedingungen in einer Situation. Erfolg kann jedoch nur mithilfe eines befähigten Generals erlangt werden, der über die folgenden Fähigkeiten verfügt: Weisheit, Aufrichtigkeit, Güte, Courage und Strenge. Auch diese Qualitäten haben einen ausschließlich internen Bezug und führen keineswegs zur Aufrichtigkeit gegenüber dem Feind.

 

Vergessen Sie also Standardsituationen, denn chinesische Strategien unterscheiden sich maßgeblich von westlichen Strategien dadurch, dass sie weder konsistent noch vorhersehbar sind. Zudem finden westliche Kriterien an Fairness oder Ehrlichkeit kaum entsprechende Anwendung, da unter der Prämisse eines „Kriegszustandes“ alles erlaubt ist, was zum Erfolg führt. An dieser Stelle ist auch eine moralische Betrachtung wenig hilfreich, da trickreiches Vorgehen, Täuschung und Irreführung ganz einfach zum Repertoire eines chinesischen Geschäftsmannes gehören. Geht es allerdings nicht ums Geschäft oder um Politik, dann werden sie eine ganz andere Seite bei ihren chinesischen Freunden erkennen, die genau so hilfsbereit und freundlich ist, wie dies im zwischenmenschlichen Bereich zu erwarten ist. Doch wie auch unser deutsches Sprichwort besagt: Schnaps ist Schnaps und Geschäft ist Geschäft. Und beim Geschäft gelten in China eben andere Regeln.

 

Um ein tieferes Verständnis für Sun Tzu’s Strategien zu erlangen, bleibt der Griff zum Buch nicht erspart und man sollte viel Zeit dafür vorsehen, da jede Taktik, Regel oder Strategie zu weiterem Nachdenken anregt und ausreichend Möglichkeit für Interpretationen und Entsprechungen im realen Leben zulässt. Als Einstieg ist eine reine Übersetzung zu empfehlen, um sich mit den Grundgedanken Sun Tzu’s vertraut zu machen, bevor man im zweiten Schritt eines der inzwischen unzähligen Bücher heranzieht, die sich mit der Kunst des Krieges im Management, Marketing oder anderen Bereichen beschäftigt. Der Vorteil liegt in jedem Falle ganz auf ihrer Seite.